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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

nicht entgangen, trotz der strengen Beherrschung seiner Züge, daß Werner in der Schilderung des Knaben sich erkannt hatte – einen Moment war dies ruhige, kalte Gesicht bleich geworden, ohne Zweifel im Zorn darüber, daß ein Mädchen den Muth haben konnte, ihm, dem verwöhnten, vornehmen Mann, gegenüber ungescheut zu sagen, sie hasse ihn… Das war ein Triumph für sie gewesen, eine glänzende Sühne für die Qualen, die jene hochmüthigen Augen, jenes spöttische Lächeln ihrem Herzen so oft zugefügt hatten. Ja, sie hatte sich und ihren Mädchenstolz einen Augenblick vergessen; aber sie hatte auch gesiegt … und doch weinte sie jetzt über diesen Sieg heiße Thränen; ja, es war ihr, als klaffe unter ihm ein Grab, in das sie das liebste Eigenthum ihrer Seele muthwillig selbst gestoßen habe.

Aus dem Gewirr von widersprechenden Gedanken, welches in ihrem Kopf auf und ab wogte, trat nur einer klar ausgeprägt vor ihre Seele, und sie griff nach ihm, als dem einzigen Rettungsanker – sie mußte nun unausbleiblich fort, weit fort. Es half zu nichts, wenn sie in eine andere, nahegelegene Stadt ging – sie durfte keine deutsche Luft mehr athmen, keinen deutschen Himmel mehr über sich sehen, das Meer mußte zwischen ihm und ihr liegen – sie wollte fort, weit, weit fort.

Als gäbe dieser Gedanke ihr neue Flügel, lasse sie aber auch jetzt schon nirgends mehr rasten, eilte sie aus der Stube und betrat mechanisch wieder den Kreuzgang. Beim ersten Blick überzeugte sie sich, daß Werner den Garten verlassen hatte. Sie lief rastlos auf und ab, ihr Denken angestrengt auf den einen Punkt gerichtet, wie sie sich Reisemittel verschaffe, bis sie sich todtmüde auf das Postament setzte, das Jahrhunderte lang die Statue der Jungfrau Maria getragen hatte. Sie schloß die Augen und schmiegte sich an das Gemäuer, das eine erfrischende Kühle über ihre brennenden Glieder hauchte. Tiefe Stille herrschte in dem kleinen Winkel, die kein Lüftchen zu stören wagte; nicht einmal die Ranken des Ginsters bewegten sich, die, droben um die Säulenknäufe gewickelt, ihre Enden muthwillig und frei in der Luft hängen ließen… Nur dann und wann, sobald das junge Mädchen aufzuckte und hastig seine Stellung änderte, ließ sich ein leises Knirschen in der Wand hören, wobei das Postament jedesmal leicht erzitterte. Zu tief in sich selbst versenkt, hatte Magdalene anfänglich dies seltsame Geräusch nicht weiter beachtet; einmal aber stieß sie heftiger an eine hervorragende Stelle in dem unteren Mauerwerk und wurde in dem Augenblick unter einem widrigen Gekreisch, das aus dem Gemäuer zu kommen schien, sammt dem Postament stark gerüttelt. Das kam ihr grauenhaft vor. Sie sprang auf und floh einige Schritte in den Garten hinaus. Bald aber kam sie zurück. Schien doch die Sonne so lebenswarm und golden herein; eben flogen die Schwalben, deren Nester an den umgrünten Säulen des Ganges hingen, unbeirrt und fröhlich zwitschernd aus und ein und über die Gartenmauer klang helles Kindergelächter… Sie schämte sich ihres Grauens und fing an, die Sache herzhaft zu untersuchen.

Ueber dem Postament, neben einem weit hervortretenden Stein, befand sich eine Art Knauf, rund und massiv, wie man sie noch hier und da an sehr alten Thürschlössern findet. Er war bisher unbemerkt geblieben, weil ihn die Statue vollkommen verdeckt hatte. An diesen Knauf hatte Magdalene mit dem Arm gestoßen… Unwillkürlich fiel ihr die Sage von den zwölf silbernen Aposteln ein, die, einst im Besitz des Klosters, noch in einem unterirdischen Gang desselben liegen sollten. Der Volksmund hatte freilich auch hier nicht verfehlt, schwarze Kettenhunde mit tellergroßen, glühenden Augen bewachend vor den Aus- und Eingang zu placiren und letzteren verschwinden zu lassen, sobald ihn das ungeweihte Auge eines Sterblichen berühre… Wenn nun hier die Lösung dieses Geheimnisses vor ihr lag? Wenn ihr vielleicht vorbehalten war, jenen Schatz zu heben, von dessen Werth und Größe die Sage Unglaubliches fabelte? … Welche Genugthuung für sie, wenn sie dann diesen geldstolzen Stadtbewohnern, und vor Allem ihm, diese Silbermassen verschmähend vor die Füße werfen konnte, nichts für sich behaltend, als die Mittel, die es ihr möglich machten, die Stadt verlassen zu können! … Aber das war ja Alles so märchenhaft lächerlich! Nur eine aufgeregte Phantasie konnte mitten in die Wirklichkeit solche Luftschlösser zaubern. Trotz dieser Raisonnements des Verstandes faßte Magdalene den Knauf. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, ihn umzudrehen, stieß sie ihn endlich mit Gewalt in die Mauer zurück, und siehe da – mehrere Quadersteine, die ohnehin aussahen, als wollten sie jeden Augenblick aus dem Gemäuer herausfallen, schoben sich unter lautem Geräusch, und eine mächtige Staubwolke aufwirbelnd, langsam vorwärts. Ein breiter Spalt erschien in der Mauer, und nun sah Magdalene, daß die Quadern keineswegs so dick im Durchmesser waren, als von außen schien; sie waren vielmehr dünn gespalten und geschickt auf einer eichenen Thür befestigt, die sich jetzt ohne Mühe weiter öffnen ließ. Unmittelbar zu Magdalenens Füßen führten acht bis zehn ausgetretene Stufen in die Tiefe. Drunten aber dämmerte es grüngolden, wie wenn die Sonne durch dichtes Laubwerk dringt. Es sah ganz und gar nicht unheimlich aus, und deshalb stieg Magdalene auch rasch entschlossen die Treppe hinab. Unten angelangt, sah sie einen schmalen, ziemlich niedrigen Gang vor sich, der links, dicht an der Decke, schmale, aber lange Oeffnungen hatte, durch welche frische Luft und ein gedämpftes Licht einströmten. Der Gang lief ohne Zweifel parallel mit der Klostermauer droben, die im Verein mit der lebendigen Wand von dichtem Buschwerk dem Auge die Luftlöcher von außen entzog. Der Boden des Ganges war mit einem feinen Sande bedeckt, und an den Wänden saß der Mörtel noch so fest in dem Steingefüge, als seien erst Jahre und nicht Jahrhunderte an ihm vorübergestrichen.

Magdalene schritt weiter. Der Gang senkte sich ziemlich steil abwärts und plötzlich that sich zur Rechten des Mädchens ein zweiter Gang auf, der sie in tiefster Finsterniß angähnte. Sie eilte erschrocken vorüber, immer den grünschimmernden Leitsternen folgend, die so tröstlich in den Hauptgang hereinglänzten. Eine Strecke lang jedoch hörten auch diese auf. Eine starke Erschütterung über ihr ließ sie vermuthen, daß sie sich unter einer belebten Straße voll Wagengerassel und Menschenverkehr, wahrscheinlich unter dem Marktplatz, befinde. Der Gang bildete hier eine scharfe Ecke nach rechts, und beim Umbiegen glänzten ihr droben die Lichter wieder entgegen.

Magdalene war nun ziemlich lange geschritten, allein nirgends, weder an den Wänden, noch am Boden war eine Spur der Klosterschätze zu entdecken. Ihr Fuß watete in dem weichen, mehlartigen Sande, ohne einen anderen Gegenstand zu berühren, und in den Luftlöchern droben zeigte sich manchmal der schillernde Schuppenleib einer vorüberschlüpfenden Eidechse – das war Alles!

Noch einige Schritte, und sie stand vor einer Thür, die genau aussah, wie die am Eingang. Magdalene blieb zögernd stehen. Ohne Zweifel löste sich hier das Räthsel, aber wie? … Wenn nun dieser unbekannte Raum, da vor ihr, Miasmen aushauchte, die sie augenblicklich betäubten und ihren Tod unvermeidlich herbeiführen mußten? … Hier unten wollte sie nicht sterben – der Gedanke war entsetzlich – sie trat einen Schritt zurück. … Aber nun flog Alles, was sie heute schon gelitten, wieder durch ihre Seele. Noch vor einer Stunde schien ihr kein Preis zu hoch, ihre Seelenruhe wieder zu erlangen, und war, selbst wenn sie hier unten sterben sollte, dieser Gedanke schrecklicher, als das Bewußtsein, daß sie nun ein vielleicht langes Leben, so freudenleer und sonnenlos, mit müdegehetztem Herzen, an einem verhaßten Ort hinschleppen müsse? … Ihre Pulse klopften heftig. Es war, als ob Stürme ihr Haupt umbrausten und mit schwarzen Flügeln über ihre Augen wehten… Sie faßte den Knauf an der Thür und stieß ihn zurück – ein lauter Krach, begleitet von Rasseln, betäubte ihr Ohr – ein Strahl, als ob die Sonne ihre ganze Lichtgewalt hier ausströmen wolle, blendete ihre Augen – sie wankte einen Schritt vorwärts und verbarg ihr Gesicht in beiden Händen, während abermals ein donnerähnliches Gepolter hinter ihr ertönte und den Boden unter ihren Füßen erschütterte.

Endlich schlug sie die Augen auf… Wo war sie? … Vor ihr lag ein reizendes Blumenparterre; über ihr wölbte sich eine Gruppe prächtiger Linden; sie selbst stand auf einem reinlichen Kiesplatz, und das leise Rauschen einer Fontaine schlug an ihr Ohr, deren silberner Strahl nicht weit von ihr durch das Gebüsch schimmerte.

Im ersten Augenblick erschien dem jungen Mädchen, das aus dem schwachen Dämmerlicht eines engen Schachtes trat, die ganze Umgebung blendend und feenhaft, kein Wunder, wenn ihrer reichen Phantasie die überraschenden Lösungen der Märchenwelt vorschwebten. Aber nach einem einzigen forschenden Blick sanken die hochgehobenen Flügel der Einbildungskraft und machten einem heftigen Schrecken Platz… . Himmel, sie stand auf fremdem Grund

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_610.jpg&oldid=- (Version vom 17.9.2021)