Seite:Die Gartenlaube (1865) 618.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

die zwingende Macht der Verhältnisse war zu groß, um nicht jeden Versuch der Auflehnung dagegen als hoffnungslose Thorheit erscheinen zu lassen. Auch in Stralsund, dem Hauptort des damaligen Schwedisch-Pommern, herrschte äußerlich Ruhe und Ordnung unter dem fränkischen Regimente, dem es seit dem August 1807, nach halbjährigem, tapferem Widerstande, verfallen war. Seitdem hatte man seine bedeutenden Festungswerke darniedergeworfen und es befand sich gegenwärtig nur eine kleine Besatzung daselbst, etwa einhundert und fünfzig Mann Artillerie unter dem Befehl eines Capitains. Schmetternde Marschmusik ertönte an dem gedachten Morgen, ihr nach zogen die fremden Krieger durch die Straßen der Stadt, jeder einzelne stolz in dem Bewußtsein, der großen Nation anzugehören, ein Glied des gewaltigen Kolosses zu sein, der den Erdkreis umspannen zu wollen schien.

Der kriegerische Schall drang jetzt mit verstärkter Deutlichkeit zu den Ohren eines Mannes, der im Erdgeschoß eines Eckhauses am sogenannten Schildsod zum Fenster getreten war, die Stirn an das Holzkreuz desselben lehnend. So stand er lange. Das heitere Familienbild hinter ihm im Zimmer zog ihn nicht an. Am Frühstückstische im sauberen Hauskleide jener Zeit sein noch junges, hübsches Weib mit den Kindern, einem blühenden Knaben und einem Mädchen, ihr gegenüber seine alte Mutter, deren ergrautes Haupthaar ein farbiges Tuch nach schwedischer Sitte umhüllte. – Vom Festlärm draußen offenbar schmerzlich berührt, hatte er mit einer fast heftigen Bewegung dem Fenster den Rücken gekehrt. Die Arme verschränkt, blickte er finster und voll innerer Aufregung gerade vor sich hinaus. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann, gegen vierzig Jahre alt und von regelmäßigen Gesichtszügen; seine zugleich straffe und ungezwungene Haltung verrieth, trotz der bürgerlichen Kleidung, die er trug, den ehemaligen Soldaten. In der That hatte der frühere Ingenieur und Artillerielieutenant Petersson lange im activen Dienst der schwedischen Krone gestanden und als solcher auch die Vertheidigung von Stralsund während der Belagerung mit durchgefochten. Wegen eines falschen Verdachts war er seiner Stellung enthoben worden und beim Abzuge seiner Landsleute hier geblieben, hatte sich ein Haus erworben und füllte die seinem thätigen Geiste wenig zusagende Mußezeit durch Unterrichtgeben, besonders im Zeichnen, aus.

In seine Gedanken versunken, merkte er es nicht, daß die alte Frau mit den Kindern das Zimmer verließ, daß jetzt Stille in demselben waltete und seine Gattin mit bekümmerter Miene neben ihm stand. Erst als sie sanft ihre Hand auf seine Schulter legte, schüttelte er wie unwillig über diese Störung das Haupt und drehte sich hinweg. Mit schallenden Schritten durchmaß er eine Weile hastig das Wohnzimmer, noch immer schweigend, bis nach und nach seine Bewegung langsamer ward, sein verhaltenes Zürnen, sein Gram einzelne Worte fand und er dann, wie schon oft vorher, gegen die theilnehmende Gattin seinen innersten Gefühlen Luft machte. Durfte denn der Verrath, das Unrecht, der Despotismus der Welt Gesetze vorschreiben? Nein! Eine höhere Gewalt, der Geist der Wahrheit, der Gerechtigkeit mußte endlich ein Machtwort darein reden, vor dem alle Tyrannengewalt in Trümmer zerschellte. Eben weil der Frevel so groß, das Unrecht so himmelschreiend, durfte es nicht länger bestehen: es mußte ein Ende nehmen, und zu diesem Ende selber thätig mitzuwirken, sei sein sehnlichster Wunsch. Wie der heldenmüthige Schill, auf den jeder Wackere mit freudig erwachender Hoffnung blicke, möchte auch er wieder hinaus, zu kämpfen, zu siegen, den Haß zu stillen in dem Blute der Franzosen.

Petersson hatte im Sprechen sein Herz erleichtert; die hochgehenden Wogen der Erbitterung ebneten sich und eine hellere Stimmung überkam ihn. Seine Züge gewannen wieder jenes offene und gewinnende Gepräge, welches ihm leise die Herzen zuwandte, wie er sich denn auch einer seltenen Beliebtheit bei seinen Mitbürgern und Bekannten erfreute. Bald darauf verließ der ehemalige Lieutenant, sorgfältig zum Ausgehen gekleidet, das Haus. Die neunte Stunde rückte heran und berief ihn zur Ausübung seiner Lehrerpflicht.




Petersson hatte die Unterrichtsstunde geschlossen. Langsam schritt er durch die Straßen, sein zerstreut umherschweifender Blick gewahrte eine auffallende, unruhige Bewegung. Menschen eilten hin und wieder, fragten, berichteten untereinander; sie kamen aus den Häusern hervor, sahen die Straße entlang, Knaben liefen jauchzend dazwischen. „Der Schill ist hier!“ scholl es ihm entgegen. Was war dies, war es möglich? Was wollte, was konnte –

„Ah, Herr Lieutenant!“ – ein aufgeregter Bürger rief es Petersson zu, den er wie die Meisten noch so betitelte – „wissen Sie schon? Denken Sie sich, der Schill ist plötzlich gekommen, preußische Jäger und Husaren halten auf dem Neuen Markt. Jetzt müssen die Franzosen kopfüber!“

„Ach was, er ist schon wieder fortgeritten.“

„Nein, nichts da! Der französische Capitain ist ja gefangen worden, ich hab’s selbst mit angesehen.“

So tönt es widersprechend durcheinander. Petersson schlug fast laufend die erwähnte Richtung ein: er war erschrocken wie über ein unerwartetes Glück, eine Freude, die plötzlich vom Himmel herabkam; dann mußte er still stehen, sich an die Stirn fassen, blitzschnell jagten sich hinter ihr die Gedanken. Da – sein geübtes Ohr vernahm, unterschied den Lärm kriegerischer Zurüstungen, das Rollen von Geschützen auf dem Steinpflaster, Wagengerassel, Rufen, Geschrei. „Die Franzosen wollen sich wehren,“ klang es ihm entgegen, „Gott im Himmel, was wird es geben!“ Er stürzte vorwärts, er überblickte eine wüste, tumultuarische Scene, einen Auftritt rasender Eile und Geschäftigkeit. Wie rumpelte und toste es durcheinander, wie rannten und schleppten die flinken Franzosen von dieser, von jener Richtung, mit allen nur möglichen schmetternden Flüchen ihrer Muttersprache die Arbeit würzend! Die im Ueberfluß vorhandenen Kriegsmaterialien wurden mit Windesschnelle herbeigeschafft, in Bereitschaft gesetzt, Lafetten gerichtet, Munition aufgefahren; es galt die Haakstraße zu versperren, die Zugänge zu verbarricadiren, Kanonen davor aufzupflanzen.

Petersson mußte sich um Alles zuerst von der Sachlage einen vollständigen Ueberblick verschaffen. Ihm brannte das Herz in der Brust, alle seine Sinne waren geschärft, auf das Höchste angespannt; das Soldatenblut wallte hoch in ihm auf, er fühlte sich wie elektrisirt. Auf Nebenstraßen eilte er vorwärts; nun hieß es: „Die Preußen sind da, Schill ist wiedergekommen!“ Er hörte nur das Eine, hatte nur Gedanken für das Eine. Alles Uebrige um ihn her, die laut ausgesprochenen Befürchtungen, die Besorgniß der Einwohner vor den möglichen Folgen eines blutigen Zusammentreffens, die in bangen Klagen sich Luft machte – es ging spurlos an seinem Geiste vorüber. Aus den höchsten Giebelluken eines Hauses beobachtete er angestrengten Auges jede Bewegung, jeden sich entwickelnden Vorgang unten. Die Schaar der Preußen hatte einen Moment zögernd, unentschlossen auf dem Neuen Markt gehalten, sie schienen mit Ueberraschung die gerüsteten Feinde vor sich, die Mündungen der Kanonen sich entgegen gerichtet zu sehen. Officiere sprengten hierhin und dorthin, mit Ordnen beschäftigt; Petersson glaubte den so hoch von ihm bewunderten Helden unter ihnen herauszuerkennen – ja, er war es, er mußte es sein! Die Franzosen auf der andern Seite, in aller lärmenden Lebendigkeit ihres südlichen Naturells, hielten drohend, schimpfend, herausfordernd bei ihren Geschützen, die herannahenden Preußen trotzig erwartend. Eine prasselnde Salve schmettert in diese hinein, Gewehr- und Kartätschenfeuer – ha! es hat blutig getroffen, rings um den Anführer stürzen sie zusammen. Zwei Officiere sind darunter, einer erhebt sich wieder, schwingt hoch den Säbel empor – nur Einer! Triumphgeschrei von drüben, gellend, überlaut – o, diese Franzosen! Die Preußen wanken, Verwirrung in ihren Reihen, sie ziehen sich eilig zurück. Nur um sich von Neuem zu ordnen, in fester Kampfordnung geht es wieder vorwärts, den Todesschlünden entgegen.

Man kennt den Verlauf des mit ungeheurer Erbitterung geführten Kampfes, man weiß, daß es Petersson war, der, unfähig, länger diesem zuzuschauen, sich durch das tobende Gewirr hindurch zu Schill drängte, ihm seinen Beistand anzubieten. Die zwingende Minute entzündete ein schnelles Verständniß zwischen dem preußischen Major und dem ehemaligen schwedischen Lieutenant, und während jener hier den Streit fortsetzte, führte dieser die seiner Leitung zugewiesenen Jäger und Scharfschützen auf einem Umwege in weitem Bogen in den Rücken der Feinde hinein. Sie erlegten mit ihren weittreffenden Kugeln die französischen Kanoniere neben den Geschützen, von den Luken und Fenstern eines Hauses am sogenannten Katharinenberge herab, das mit seiner Rückseite an den inneren Hof des Zeughauses sich lehnte. Der

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_618.jpg&oldid=- (Version vom 15.10.2022)