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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)


Czar und Czarewitsch.
Eine russische Haus-, Hof- und Staatstragödie.
Von Johannes Scherr.
1. „Glücklich wie eine Prinzeß!“

„Quält mich doch nicht so mit den nutzlosen Arzneien und laßt mich ruhig sterben, da ich nicht länger leben mag. Das Dasein liegt zu schwer auf mir!“

Die das sprach am 1. November 1715 im Czarenpalast von Moskau, war eine deutsche Prinzessin, Charlotte Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel, und schwer fürwahr hatte das Dasein auf ihr gelegen und gelastet, seit jenem 25. October von 1711, wo sie zu Torgau dem Czarewitsch Alexei, des großen Peter’s erstgeborenem Sohn, angetraut worden war.

Damals, zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, sind russische Heirathen noch nicht der höchste Ehrgeiz und heißeste Wunsch deutscher Fürstenhäuser gewesen. Man wußte in Mittel-, West- und Südeuropa noch wenig von Rußland. Was man aber erfuhr, war der Art, die Leute mit einem aus Verwunderung, Schrecken und Abscheu gemischten Gefühle auf ein Volk blicken zu machen, welches aus dem physischen und moralischen Morast asiatischer Barbarei herauszureißen das gewaltige Kraftgenie Peter’s des Ersten soeben unternommen und begonnen hatte. Er war allerdings in seiner Art ein großer, ein größter Mann, dieser Peter. Eine welthistorische Charakterfigur ersten Ranges, in seinem Walten und Thun als Herrscher ein tüchtiger Arbeiter am Werke menschheitlicher Civilisation, geradezu ein, nein, der russische Culturheros, obzwar für seine Person sein Leben lang ein gräulicher Barbar, am hellen Tage und vor Aller Augen zügellosen Gelüsten und Leidenschaften fröhnend, deren Befriedigung selbst schamloseste Wüstlinge in Nacht und Einsamkeit zu bergen sich bemühen. Derselbe Mann aber, welcher eine Lust darin suchte und fand, allerhöchsteigenhändig den Knutenmeister und Kopfabhacker zu machen, hat mit genialem Blicke die Zukunft Rußlands erschaut und mit riesenstarkem Arme geschaffen. Er drängte, stieß, peitschte sein Volk auf die Großmachtsbahn; er pflanzte die Fahne russischer Eroberung an drei Meeren auf, an der Ostsee, am schwarzen und kaspischen Meere; er ließ den von ihm geschaffenen Koloß des Czarismus den einen Fuß auf Europa, den andern auf Asien setzen, während des Riesen lange Arme unersättlich ausgriffen, da schwedische und polnische, dort türkische, persische und chinesische Provinzen raffend und einheimsend.

Und keineswegs war Peter nur ein asiatischer Eroberer nach der Weise der Timur und Nadir. Nein, er war auch ein europäischer Organisator und Civilisator. In diesem wundersam gebauten Menschen arbeitete, selbst während er sich im Pfuhl unmeldbarer Ausschweifungen wälzte, der ruhelose Gedanke, Etwas zuwege zu zimmern und zurecht zu schmieden auf Erden, arbeitete ein rastloser Schöpfungstrieb, eine frohlockende Kraft, die gewaltige Schulter an die Völkerlawine Rußland zu stemmen und sie vorwärts zu rollen auf der weltgeschichtlichen Bahn. Auch war vom Geiste seines Jahrhunderts ein Funke in dieses Mannes Seele gefallen. Dies erhellt nicht nur daraus, daß der Czar, „frei von allen Vorurtheilen“ – wie ein zu jener Zeit häufig umgehendes Wort lautete – nicht anstand, die Bastardtochter einer esthnischen Leibeigenen, die gewesene Sclavin verschiedener russischer Generale, welche nachmals, eine gekrönte Kaiserin, als Katharina die Erste über Rußland geherrscht hat, als seine Gemahlin neben sich auf den Thron zu setzen, weil sie seine Gedanken verstand und seine Entwürfe fördern half, sondern es erhellt auch und noch deutlicher daraus, daß in diesem Kraftmenschen, in diesem Ungethüm von Wütherich und Tyrannen schon eine nicht minder starke Ader vom Staatsdienerbewußtsein pulsirte, als sie später in den zwei aufgeklärten Musterdespoten, in Friedrich dem Zweiten und Joseph dem Zweiten, sich regte. In Wahrheit, es war etwas von echter Größe in der Art und Weise, wie Peter zu verschiedenen Malen es aussprach und bethätigte, daß ihm die Größe Rußlands unendlich viel mehr galt, als die seines Hauses. Unter der Gehirndecke dieses Czarenschädels, wie weit immer sie gewölbt war, hatte ein so kleinlich Ding wie dynastische Selbstsucht dennoch keinen Platz …

Allein gesetzt auch, die Prinzessin Charlotte von Braunschweig hätte politischen Sinn und Ehrgeiz genug besessen, um das Loos, Peter’s des Großen Schwiegertochter und voraussichtlich dermaleinst Czarin aller Reußen zu werden, willkommen zu heißen, so mußten jungfräulicher Instinct und gebildetes Frauengefühl doch schon sich angewidert fühlen von dem Gedanken, in ein Land zu gehen, wo die Barbarei der Sitten oder vielmehr Unsitten auch in den vornehmsten, höchsten und allerhöchsten Kreisen noch in voller und toller Wüstheit rumorte. Wahrscheinlich jedoch hatte die arme Charlotte gar keine Vorstellung, daß sie, das wohlerzogene, sittsame und feinfühlende deutsche Mädchen, an einen Hof versetzt werden solle, allwo weibliche Tugend und frauliche Würde schlechterdings unbekannte Dinge waren, wo ein jedes der Hof- und Ehrenfräulein des Morgens eine Kanne Branntwein erhielt „um sich den Mund auszuspülen“, weshalb „sie auch den ganzen Tag über sehr guter Laune waren“, sagt unser berichterstattender Augenzeuge; an einen Hof, wo der Soff in des gemeinen Wortes gemeinster Bedeutung Herren und Knechte, die Pfaffen inbegriffen, tagtäglich, Frauen und Mägde sehr häufig unter das Vieh erniedrigte und wo es bei großen czarischen Festen für einen Hauptspaß galt, auf der Tafel der Herren eine nackte Zwergin und auf der Tafel der Damen einen nackten Zwerg aus einer Pastete schlüpfen und auf dem Tische Grimassen schneiden zu sehen.

Und nun vollends der Bräutigam, welchem hingegeben zu werden die Prinzessin das „Glück“ hatte! Alexei Petrowitsch war im Jahre 1690 dem Czaren von seiner ersten Frau geboren worden, von jener Awdotja (Eudoxia) Lapuchin, welche Peter im Jahre 1698 verstieß und zwang, im Kloster Ssusdal als Nonne sich einkleiden zu lassen, was die Verstoßene jedoch nicht hinderte, mit allerhand Weltlichem, unter Anderem auch mit ihrem Liebhaber Stephan Glebow, sich zu befassen. Denn Awdotja ist keineswegs der fleckenlose Tugendspiegel gewesen, zu welchem gemüthliche Poeten das Bild der Verstoßenen zugeschliffen haben. Sehr begreiflich zwar, daß sie den Czaren von ganzer Seele haßte, nicht weniger begreiflich aber auch, daß Peter die rastlosen Ränke und Zettelungen, welche die Ex-Czarin von Ssusdal aus spann, um das Werk seines Lebens, die Europäisirung und Machtentfaltung Rußlands, zu hindern, zu hemmen oder wieder zu zerstören, mit eisernem Fuße zertrat.

Der Knabe Alexei wurde der Erbe des mütterlichen Hasses gegen den Vater, der seinerseits in dem Kinde von früh auf eben auch nur oder wenigstens allzusehr blos den Sprößling der verhaßten Awdotja gesehen zu haben scheint. Es war ein schlimmes Verhältniß von Anfang an. Die Erziehung des körperschwachen und geistesarmen, trägen, dabei frühzeitig auf den Abweg geschlechtlicher Sünden gerathenen Prinzen ist arg vernachlässigt worden. Die oberste Aufsicht darüber führte oder sollte führen der Emporkömmling und Günstling Mentschikow, welcher seine Sclavin Katharina an den Czaren abgetreten hatte. In dem Grade nun, in welchem diese immer bedeutender und mächtiger wurde, und ganz im Verhältniß zu der Raschheit und Entschiedenheit, womit sie dazu gelangte, von Peter erst zur Gossudarina, dann zu seiner rechtmäßigen Gemahlin erklärt zu werden – welche „Rechtmäßigkeit“ übrigens niemals actenmäßig hat festgestellt werden können – in demselben Grade und Verhältniß vernachlässigte Mentschikow seine Pflicht in Betreff des Czarewitsch, und dieser fiel gerade in der gefährlichen Epoche des Uebergangs vom Knaben- zum Jünglingsalter Leuten von altrussischer Anschauung anheim, stupiden Popen und sonstigem Hofungeziefer der dümmsten und schlimmsten Sorte.

Dieses Gesinde stopfte die enge Gehirnhöhle des Prinzen mit orthodoxem Wust voll, bildete ihm ein, er sei berufen, dereinst die „gottlosen Neuerungen“ seines Vaters zunichte zu machen, das altgläubige Czaren- und Russenthum der guten, alten, frommen Zeit wieder herzustellen und die Nachkommenschaft der Czarin Katharina auszutilgen. Selbstverständlich beeiferte das Ungeziefer sich auch, den Prinzen im Laster zu steifen und insbesondere seinen Hang zur Trunksucht zu stacheln, auf daß der also Herangezogene dereinst ein Czar wäre, wie ihn derartige treue Diener des Thrones und Altars wollten und wünschten. Den Augen Peter’s, obgleich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 632. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_632.jpg&oldid=- (Version vom 19.10.2022)