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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Irrenden zum Wiederfinden eines Weges, hadernden Kirchen zur Versöhnung miteinander und Allen zur Stärkung durch das Jesuwort. Den Schluß seiner Werke bildet die „Selbstschau“, die er in seinem siebenzigsten Jahre vollendete. Sie enthält eine Naturgeschichte seines Gemüthes und eine Entwickelungsgeschichte seines Geistes.

Zu den Stiftungen, die von Vater Zschokke ausgingen, gehören die Freimaurerbauhütte zur Brudertreue in Aarau, die Gesellschaft für vaterländische Cultur des Aargaus, der „Lehrverein“ zu Aarau, die Gewerbschule daselbst, zu der zwei dortige begüterte Fabrikanten das Geld und Zschokke den geistigen Grund gelegt; ferner die Taubstummenanstalt ebenda und die Pestalozzi-Anstalt in Olsberg. Ferner war er es, welcher eine vernunftgemäßere Bewirthschaftung der Forsten des Cantons anbahnte. Es konnte nicht fehlen, daß ein Mann, wie Heinrich Zschokke, der mit gewaltiger Wucht des Witzes und überzeugender Wahrheit in manches Vorurtheil und Lebensverhältniß der Staaten, Kirchen, Familien und Gemüther eingriff, wenn auch immerhin vom Wunsche beseelt, als wahrer Geistesjünger zu segnen, neben treuen und begeisterten Freunden und Verehrern, auch von Gegnern, ja Feinden in großer Zahl, in Nähe und Ferne umgeben war. Aber er bewies sich als Einen, der nicht wieder schalt, da er gescholten wurde, nicht drohte, da er litt; er stellte es Dem anheim, der recht richtet.

Mit Unwillen äußerte er sich einst gegen uns über ein einflußreiches Mitglied des großen Rathes, an das er sich bei einer Wahl mit der Frage gewendet, wer unter den ihm selber unbekannten Bewerbern der empfehlenswertheste sei, als sich nachher, bei Eröffnung der Stimmzettel, zeigte, daß er, Zschokke, jenem Bewerber einzig und allein die Stimme gegeben und also nicht einmal der, welcher ihm denselben empfohlen hatte.

Die Ansichten Zschokke’s über Gesetzgebung und Staatsregierung sagten nicht Allen zu. Seine vorurtheilslose Selbstständigkeit war Manchem zuwider. Aus diesem Grunde scheint er neben seinem Freunde, Pfarrer Bok, nachmaligem Domdekan des Bischofs von Basel in Solothurn, nie in den aargauischen Cantonsschulrath gekommen zu sein, damit sie Beide nicht zu einflußreich würden.

Ein Freund Zschokke’s hatte im Laufe der Zeiten seine freisinnigen Ansichten zu verleugnen angefangen und als Milglied einer Cantonsregierung sich als Gegner der Preßfreiheit bewiesen. Als nun deshalb diesen Mann der öffentliche Tadel traf, wollte er sich in dem Schweizerboten rechtfertigen und als eine unentwegte Stütze der freien Presse darstellen. Zschokke warnte ihn und erbot sich, einige Aenderungen an dem Entwurfe der Rechtfertigung eintreten zu lassen. Das wollte der Verfasser durchaus nicht zugeben und verlangte eine wörtliche Aufnahme seines Aufsatzes. Zschokke sagte ihm dieselbe endlich zu mit dem Nachweis der Nothwendigkeit, in einem folgenden Stück des Schweizerboten einen Gegenaufsatz erscheinen lassen zu müssen. An der Hand von unwiderleglichen Thatsachen geschah dann auch das letztere, und für den Herrn Regierungsrath wurde der letzte Schaden größer, als der erste gewesen. Daß von da an die Freundschaft erkaltete, ist begreiflich.

Als bei der Neugestaltung der Dinge im Aargau (im Jahre 1830) die aristokratischen Staatsformen und Männer freisinnigern Grundsätzen und Persönlichkeiten weichen sollten, wurde ein Verfassungsrath gewählt und Zschokke zu dessen Vicepräsidenten ausersehen. Weil nun der Präsident nicht im Fall war, eine größere berathende Versammlung zu leiten, mußte Zschokke dessen Stelle einnehmen. Das sollte nicht sein. Zschokke erhielt demnach eine unterschriftslose Warnung, er möchte sich den Sitzungen des Verfassungsrathes entziehen, denn es seien Dolche gegen ihn in Bereitschaft. Vater Zschokke sah die Grundlosigkeit dieser Angabe ein und besuchte nach wie vor die Rathsversammlungen. Höchstens ließ er sich etwa von einem der Söhne begleiten.

Auf einem andern Wege gelangten seine Gegner indessen doch zum Ziele. Sie bewirkten, daß die Mehrheit des Verfassungsrathes in das Grundgesetz des Cantons die Bestimmung aufnahm: es dürfe kein Staatsamt an einen Solchen vergeben werden, der nicht geborener Schweizerbürger sei. Zschokke nahm daraufhin sofort seine Entlassung und ließ sich von seinem Entschlusse, auf dem Austritte zu beharren, nicht wieder abbringen, trotzdem, daß jene ihn verletzende Bestimmung in der nächsten Sitzung wieder beseitigt wurde.

Noch lange Jahre nach seinem Tode mußten Zschokke’s Söhne gegen einen argen Verleumder im Auslande gerichtlich einschreiten, um das Andenken des theuren Vaters rein zu erhalten. Der leichtfertige Mensch konnte sich dabei nur auf Hörensagen berufen, ohne Personen nennen zu können. Selbstverständlich wurde er verurtheilt, des Verewigten angetastete Ehre wieder herzustellen. Stille Heiterkeit aber verbreitete sich jedesmal über das Gemüth unsers Lehrers, wenn er erfuhr, daß dieser oder jener Geistliche, der sich vergessen konnte, ihn in Schrift und Wort zu verunglimpfen, immer wieder zu den „Stunden der Andacht“ seine Zuflucht nahm, um für seine Vorträge Stoff wie Form zu gewinnen. – Körperlich überragte er kaum das mittlere Maß, aber sein Gliederbau war fest und kräftig. Mit dem ziemlich raschen Fuß, dessen Zehen, wie beim Krieger, stark nach außen gerichtet waren, trat er fest auf. Ueber den breiten Schultern ruhte das Haupt mit breitem Gesicht und blühenden Wangen, langsam und ruhig, deutlich, stets in gewählter Ausdrucksweise und nicht lauter, als nöthig war, sprach er im gewöhnlichen Verkehr, wie auf öffentlicher Rednerbühne und begleitete seine Worte mit einem naturgemäßen, einfachen und würdigen Gebehrdenspiele, mit einem sichern, furchtlosen Wesen, welches dem Gefühl körperlicher Stärke und Gewandtheit ebensosehr wie dem Bewußtsein geistiger Ueberlegenheit und redlichen Strebens entstammte. In Beziehung auf seine Kleidung hielt er sich weniger an die Mode, als an Bequemlichkeit und Reinlichkeit. Oft machte er uns auf die Abgegriffenheit seines Hutes aufmerksam, sagend: „So ist’s in Freistaaten, wo Jeder dem Andern gleichsteht. Den Hut muß man fast mehr in der Hand, als auf dem Kopfe haben.“

„Er trat froh in Gott und überall in ihm und mit ihm zum Lebenswinter ein, jenseits dessen ihn kein Frühling mehr auf diesem Erdsterne erwartete. Er bereute nicht, gelebt zu haben.“ Des Geistes ungeschwächte Gesundheit fing an zu wanken im Jahre 1843. Im Winter von 1847 auf 48 und während des darauffolgenden Frühlings mußte er, zwar schmerzlos und nur in Folge großer Schwäche, die meiste Zeit im Bett zubringen. Doch blieb ihm auch jetzt noch die Heiterkeit des Gemüthes ungetrübt, wie die Schärfe des Gehörs und der Sehkraft, gleicherweise seine geistige Frische wohl erhalten. Schriftstellerische Arbeiten und der Briefwechsel mit Freunden unterblieben nicht; mit lichtvoller Klarheit sprach er zu den Seinen noch in den letzten Tagen von seinen religiösen Ueberzeugungen. Freundlich mit Wort und Hand, begrüßte er am Morgen des Todes, am 27. Juni 1848, die um das Lager sich versammelnden Seinigen und entschlummerte allmählich Schlag zehn Uhr in einem Alter von mehr als siebenundsiebenzig Jahren. Groß war die Zahl derer, die ihm am 30. Juni zum Grabe folgten. Voran schritten die Zöglinge der Taubstummen-Anstalt. Den Sarg deckte, nach seinem Wunsche, der Eichenkranz, den ihm einst, im Jahre 1828, Freunde zu Frankfurt a. M. gewunden.

Sein Grab im „Rosengarten“ zu Aarau deckt ein roher, unbehauener Marmorblock von schwarzer Farbe, um anzudeuten: es traure die nach höherem Lichte der Erkenntniß sehnsüchtig ausblickende Menschheit über seinem Staube.

Seine Nanny überlebte den Tod ihres Gatten beinahe zehn volle Jahre, rastlos den Sorgen um Kinder und Enkel obliegend. Wie die Biene, beladen mit der Bürde ihres Fleißes, in der Nähe ihrer Wohnung ermattet zu Boden sinken kann, so sank auch sie am 10. Februar 1858 von Aarau heimkehrend und am Hügel emporsteigend, in der Nähe der Blumenhalde kraftlos hin, raffte sich nach längerer Zeit wieder auf, schleppte sich heim und legte sich zu Bette. Als aber ihr Hochzeitstag (25. Februar) graute und sie die Todesstunde näher kommen fühlte, sagte sie: „Nun kann mich denn heute der Papa wieder als seine Braut empfangen!“ Hierauf an die Söhne gewendet: „Die eine Hälfte von Euch lasse ich noch auf der Welt zurück, die andere Hälfte finde ich dort oben wieder. O, wie freue ich mich, sie zu sehen!“

Um eilf Uhr, in der Stunde der Trauung, brach ihr Auge und die Glorie der Vollendung verbreitete sich über ihr entschlummertes Antlitz.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 648. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_648.jpg&oldid=- (Version vom 22.10.2022)