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verschiedene: Die Gartenlaube (1865)

Einwendungen eines strengen Generaladvocaten, der sogar (provisorisch verhafteten) politischen Gefangenen das Schachspiel verboten hatte, was man im rohen Mittelalter wegen politischer Verbrechen Verurtheilten erlaubte; denn der privilegirte Besuch dieser Räume war nur während der Promenade und als Aequivalent dieser Erholung zugestanden, und überdies war zu dieser Zeit eine erhöhte Aufsicht und verschärfte Bewachung angeordnet. An einen Fluchtversuch von diesen uns geöffneten Privatzimmern, deren Fenster, mit eisernen Barren versehen, in den großen Rundhof gingen, war deshalb nicht zu denken, und immer blieben noch die ganze Wachmannschaft zu ebener Erde des Inspectionshauses, ein dort gewöhnlich postirter Géolier, das verschlossene Hauptthor und die äußere Schildwache als zureichende Verwahrungsbürgschaft übrig.

Ich hatte mich mit den Localitäten des Hauses, ohne Aufsehen zu erregen, bekannt gemacht und eine auf den Boden führende Treppe entdeckt, wohin vom Hausgange aus eine verschlossene Thür führte. Zu dieser Thür hatte ich mit Hülfe eines in der Stadt wohnenden Freundes mir einen Nachschlüssel verschafft. Während einer Woche hatte ich nun die musicirenden Freunde alltäglich unter dem Vorwande, ein gewisses Bedürfniß zu befriedigen, auf einige Minuten verlassen. In dieser Zeit schlüpfte ich mit Hülfe meines Schlüssels nach dem Speicher, recognoscirte das Terrain und brachte alltäglich unter meinem Schlafrocke verborgen die zur Verkleidung nöthigen Gegenstände hinauf, welche ich unter den Dachbalken in einem dunkeln Winkel versteckte. Ich hatte mich stets so schnell wie möglich wieder in das Musikzimmer zurückbegeben und meine durch einen plausibeln Grund gerechtfertigte Abwesenheit hatte keinen Verdacht bei dem anwesenden Verwalter oder seinem Vertreter erregt. Auf diese Weise gelang es mir, einen Oberrock, den mir ein Mitgefangener lieh und der meine Taille ganz entstellte, sowie eine Wasserflasche mit Seife, Rasirmesser und Scheere, sodann einen Stock (ein dem Gefangenen durchaus verbotenes Instrument) und endlich einen dicken Actenfascikel mit der lithographirten Aufschrift „Untersuchungsacten gegen etc.“ nach und nach in meinen Versteck zu bringen. Ich fügte noch einen Hut und eine Brille bei. Zu gleicher Zeit hatte ich bemerkt, daß von diesem Bodenraume mehrere Fensteröffnungen (Gaublöcher, wie man am Rheine sagt) nach dem innern Hof gingen. Dies gab mir Gelegenheit, mit einigen in’s Vertrauen gezogenen Freunden, deren Zellenfenster gegenüber im Haupthause ausmündeten, eine Mittheilung durch telegraphische Signale mittels Taschentücherschwenkens zu verabreden.

So kam der 18. November 1849 heran, Es war dies ein Sonntag und ich war entschlossen, meinen Plan in Ausführung zu bringen.

Die Promenadestunde hatte uns wieder in die Gemächer der Familie Klühenspieß geführt. Der Augenblick war gekommen. Ich verließ die Freunde entschlossenen Sinnes und doch mit schwerem Herzen. Sie stimmten bedeutungsvoll das Freiheit hauchende Lied „Hinaus in die Ferne“ an. Ein verstohlener Händedruck – wir waren nicht allein – und ein Glück auf! und Lebewohl im Blicke des Auges stärkten mich zu dem gewagten Unternehmen.

Ich stieg leise die Bodentreppe hinauf, nachdem ich die Thür innen wieder abgeschlossen hatte, und fand meine erlösenden Kleinodien im dunkeln Winkel. Zehn Minuten später wurde den Spaziergängern das Zeichen zum Einrücken in das Haupthaus ertheilt. Dies enthielt auch die Weisung für die Freunde im Inspectionshause, die Laute zur Seite und die Notenbücher auf dem sich wieder schließenden Piano niederzulegen. Da ich mit Absicht kurz vorher die Gesellschaft verlassen hatte, glaubte man, daß ich schon herunter in den Hof und mit der Masse der Spaziergänger in das Haupthaus eingetreten wäre. Einige Minuten später erblickte ich von meinem Luginsland aus das telegraphische Signal, welches mir andeutete, daß meine Abwesenheit noch nicht entdeckt worden wäre. Ich machte sofort meine Toilette. Es war mir nicht möglich, mich zu rasiren. Ich schnitt aber den Bart so kurz als möglich mit der Scheere ab, umhüllte mich mit dem geliehenen langen Rocke, darunter ein anderes Kleidungsstück, das meine schlanke Taille in ein tüchtiges Embonpoint umwandelte, drückte meinen Hut in die Stirne, zog Handschuhe an, bewaffnete meine Augen, die an solche Zugaben nicht gewöhnt waren, zur weitern Verstellung mit einer Brille, nahm den Stock in die Rechte und ergriff mit der Linken das foliodicke Actenbündel. Ich konnte in diesem Aufzuge nicht leicht im Halbdunkel für den gefangenen Assessor Witt erkannt, wohl aber für einen der Gerichtsbeamten, die damals dort stets aus- und eingingen, gehalten werden.

Nochmals constatirte ein spähender Blick nach den Fenstern der Freunde, daß noch Alles ruhig war. Ich zog nun meine Stiefeln aus, um ohne Geräusch die Treppe hinunter bis in den Corridor zu ebener Erde neben der Wachtstube gelangen zu können. In diesem Augenblicke höre ich die Bodenthür öffnen und den Tritt einer Frauensperson auf der Treppe. Eiligst ziehe ich mich in den dunkelsten Winkel zurück. Das Herz klopfte in lauten, ungestümen Schlägen. Ich hielt meinen Athem an, lauschte den sich nähernden Schritten entgegen und sandte bange Blicke spähend nach dem störenden Ankömmling. Es war die Dienerin des Verwalters, die mich genau kannte und seit fünf Monaten täglich gesehen hatte, eine arme, wegen Kindesmordes verurtheilte Person, die in Betracht ihrer guten Aufführung zu den häuslichen Arbeiten verwendet wurde. Das Mädchen hing Wäsche auf und kam mehrere Male bis auf drei Schritte zu meinem Verstecke. Einige bange, bange Minuten! Glücklicherweise hatte sie mich weder gesehen noch gehört und entfernte sich langsam, nachdem ihre Arbeit beendet war. Als ich sie im Hofe und im nahen Waschhause angekommen glaubte, verließ ich rasch meinen Winkel, betrat, behutsam und geräuschlos auf den Strümpfen schleichend wie ein Dieb, die Treppe, öffnete leise die Thür und kam unbemerkt bis auf den Ausgang zu ebener Erde. Ich zog meine Fußbekleidung eiligst an, trat hinaus und fand hier im Thorgewölbe mehrere Soldaten, die mich natürlich für einen Gerichtsbeamten ansahen. Ich bemerkte, daß ich nach der Stadt gehen wolle, und ein Soldat trat in die Wachtstube, um mein Begehren seinem Officiere zu melden und mir öffnen zu lassen. An diesem Tage hatte eine Abtheilung eines aus Altbaiern recrutirten Jägerbataillons die Wache bezogen, welches erst seit wenigen Wochen in der Rheinprovinz garnisonirte. Die Soldaten kannten unsere pfälzischen Gesichter nicht, und glücklicherweise war zu dieser Stunde, nachdem das innere Thor im Hauptgebäude geschlossen und alle Gefangenen in ihre Säle und Zellen internirt waren, kein dienstthuender Beschließer anwesend, der mich trotz meiner Vermummung hätte erkennen können. Alle Angestellten waren bei der anbrechenden Nacht im Hauptgebäude postirt und die Controle der äußeren Passage der Militärwache übergeben.

Ein bärtiger Oberjäger erschien alsbald mit den Schlüsseln, öffnete mir nach militärischem Gruße das massive äußere Thor und wünschte dem Herrn Landrichter eine „g’ruhsame Nacht“.

Man erzählte sich in der Pfalz, daß ich dem Unterofficier bemerkt hätte: „Geben Sie nur recht Acht und halten Sie ein wachsames Auge. Es sind sehr gefährliche Leute hier im Hause.“ Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß ich gestehen, daß man mir fälschlich diesen schlechten Witz untergelegt hat. Ich war stets ein jovialer Bursche – allein in einem solchen ernsten Momente denkt man wahrlich nicht an’s Scherzen!

Ich war draußen. Das gewaltige, massive Thor schloß sich hinter mir. Mit vollem Athem schöpfte ich frische, freie Luft und ging, um jedes Aufsehen zu vermeiden, langsam an der äußeren Schildwache vorüber der Stadt zu. Hier nun sah ich beim Lichte der Gascandelaber, welche die Ringmauer umleuchten, zehn Schritte vor mir den Sohn des Verwalters gegen mich herankommen, der eben vom Sande, einem Belustigungsorte bei Zweibrücken, nach Hause zurückwandelte. Der junge Klühenspieß war Secretair auf der Kanzlei des Generalstaatsprocurators und kannte mich persönlich ganz genau. Doch er war kurzsichtig und das Dämmerlicht begünstigte mich. Uebrigens hielt ich es doch für rathsam, nach der anderen Seite der Straße auszubiegen und langsam weiter zu gehen. Er schaute mir nach, ging zum Thore und frug, wer eben hinausgegangen wäre. Man sagte ihm, es sei ein Gerichtsbeamier gewesen, was ihm sonderbar vorkam, da die vorbeihuschende Erscheinung ihm eine fremde dünkte und er alle fungirenden Beamten genau kannte. Glücklicherweise glaubte er sich geirrt zu haben und bemerkte erst später den sonderbaren Umstand seinem Vater.

Unterdessen hatte ich Zeit gewonnen. Einmal aus dem Bereiche der Schußwaffe der Schildwache und von der Dunkelheit begünstigt, lenkte ich nun zur linken Hand ein, verließ die Straße und trabte querfeldein über Aecker und Wiesen der Grenze zu. Ich war damals ein kräftiger junger Mann und trotz der Erdschollen, die klumpenweise an den Stiefeln hingen, lief ich unaufhaltsam mehr als eine Stunde Weges. Die moralische Energie verdoppelt stets die physischen Kräfte. Die Gegend war mir

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verschiedene: Die Gartenlaube (1865). Ernst Keil, Leipzig 1865, Seite 793. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1865)_793.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2022)