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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

eine Spalte des Vorhanges in das Zimmer huschte. Es war, als glitte der dünne, goldene Strahl auch in ihre umnachtete Seele und werfe ein Streiflicht auf das, was ihre Gedanken im tollen Kreislauf unberührt gelassen hatten. Sie fing an zu überlegen, daß Hollfeld ja völlig selbstlos handele. Wenn auch die Nothwendigkeit, daß er sich vermählen müsse, stets wie ein Schreckbild vor ihr aufgestiegen war, so hatte sie dieselbe doch nie wegzuleugnen vermocht; und mußte sie es nicht anerkennen, daß ihr Gedanke, er werde warten, bis sie aus dieser Welt geschieden sei, in ihm keinen Raum gefunden hatte? Brachte er nicht auch ein schweres Opfer? denn er liebte ja sie, nur sie allein, und mußte sich entschließen, einer Anderen anzugehören; durfte sie ihm die Erfüllung einer heiligen Pflicht noch schwerer machen durch ihren Jammer? … Er forderte sie auf, einen mühevollen Weg mit ihm zu gehen; sollte sie sich da feig und muthlos zeigen, wo er eine große Willensstärke bei ihr vorausgesetzt hatte? … Und fand er ein Weib, das sich mit der Freundschaft begnügte, da, wo es mit vollstem Recht Liebe heischen konnte, wie hätte sie sich von ihr an Selbstverleugnung übertreffen lassen mögen?

In fieberhafter Hast griff sie nach der silbernen Glocke auf dem Nachttisch und berief die Kammerfrau, um sich ankleiden zu lassen. Ja, sie wollte entsagen, wollte stark sein; aber sie meinte auch, nur der ganzen, vollen Gewißheit gegenüber werde sie Muth und Stärke finden, und deshalb mußte sie vor Allem den Namen Derjenigen wissen, welche Hollfeld für geeignet hielt, die schwere Mission zu übernehmen. Sie hatte freilich bereits alle unverheiratheten weiblichen Wesen ihrer Bekanntschaft prüfend an sich vorübergehen lassen, doch da war auch nicht eine Einzige, die sie nicht sofort ungeduldig und heftig verworfen hätte.

Es war zwar noch nicht die Stunde, in welcher sie jeden Morgen mit der Baronin und Hollfeld zu frühstücken pflegte – ihr Bruder blieb diesen frühen Zusammenkünften stets fern – aber sie hielt es nicht länger aus in ihrem einsamen Zimmer und ließ sich, da sie sich sehr schwach fühlte, im Rollstuhl nach dem Eßsalon fahren. Zu ihrer Verwunderung hörte sie von dem Bedienten, der Alles zum Frühstück vorbereitete, daß die Baronin schon vor einer halben Stunde spazieren gegangen sei; das war ein seltener Fall, aber er kam der jungen Dame sehr erwünscht, denn in dem Augenblick, als sie sich in eine der Fenstervertiefungen rollen ließ, erblickte sie Hollfeld, der draußen auf dem großen Kiesplatze vor dem Schlosse auf und ab promenirte. Er schien keine Ahnung zu haben, daß er beobachtet wurde. Den breiten, schöngebauten Oberkörper elastisch auf den Hüften hin und her wiegend, schritt er rasch und leicht dahin. Dann und wann führte er mit sichtlichem Wohlbehagen die Cigarre an den Mund, deren feiner Duft durch das geöffnete Fenster bis zu Helene drang. Die junge Dame war zuerst schmerzlich betroffen und wollte es sich durchaus nicht eingestehen, daß das Aussehen des Geliebten ein auffallend frisches war und von heiterster Laune zeugte, aber es war ihr unmöglich, in seiner Haltung, in jeder Bewegung, ja, selbst in dem halb unbewußten Lächeln, das seine Lippen öffnete und die wunderschönen Zähne sehen ließ, einen anderen Ausdruck zu finden, als den eines kecken, jugendlichen Uebermuthes, der Lebenslust und eines unendlichen Behagens… Da war auch nicht eine Spur jener Kämpfe zu entdecken, in denen sie die Nacht verbracht hatte; wie ein Opfer grausam gebieterischer Verhältnisse sah er ganz gewiß nicht aus … Oder wirkte hier eine große, geistige Kraft, der starke, männliche Wille? Dann mußten beide einen Höhepunkt erreicht haben, der an das Uebermenschliche streifte.

Die junge Dame zog finster die Augenbrauen zusammen.

„Emil!“ rief sie heftig, mit fast rauher Stimme hinab.

Hollfeld erschrak sichtlich, aber mit einem Satz stand er unter dem Fenster und schwenkte grüßend den Hut.

„Wie?“ rief er, „Du bist schon hier? … Darf ich hinaufkommen?“

„Ja!“ klang es in bereits milderem Ton herab.

Nach wenig Augenblicken trat er in den Salon. Helene hatte jetzt eher Grund, mit seinem Aussehen zufrieden zu sein; denn es lag ein tiefer Ernst auf seiner Stirn. Er warf seinen Hut auf den Tisch und rückte einen Stuhl neben die junge Dame. Ihre beiden Hände zärtlich an sich ziehend, sah er ihr in’s Gesicht; er schien selbst betroffen zu sein über ihre aschbleichen Wangen und den erloschenen Blick, der dem seinen begegnete.

„Du siehst sehr übel aus, Helene,“ bemerkte er theilnehmend.

„Und nimmt Dich das Wunder?“ fragte sie, unfähig, ihre Bitterkeit zu unterdrücken. „Mir ist leider jene glückliche Gabe des Gleichmuths versagt, mittels der man schon wenige Stunden nach einer herben Prüfung wieder heiter und lebensfroh in die Welt blicken kann… Ich beneide Dich.“

Ihr Auge streifte vorwurfsvoll sein blühendes Gesicht. Er verwünschte innerlich seine Morgenpromenade, oder vielmehr die Unvorsichtigkeit, mit der er seine Gedanken an Elisabeth und den Sieg, welchen er über das spröde Mädchen feiern werde, zur Schau getragen hatte.

„Du bist ungerecht, Helene,“ entgegnete er lebhaft, „wenn Du mich nach meiner äußeren Haltung beurtheilst… Soll denn der Mann, wenn er sich in das Unvermeidliche fügen muß, weinen und wehklagen?“

„Nun, davon schienst Du vorhin auch sehr weit entfernt zu sein.“

Ein unaussprechlicher Aerger bemächtigte sich seiner. Das armselige Wesen da vor ihm, das bei seinem mißgestalteten Körper Gott danken mußte, wenn ein Mann ihm gegenüber sich überwand, nicht gerade unfreundlich und abstoßend zu sein, und das auch wirklich früher jede kleine Aufmerksamkeit mit unsäglicher Dankbarkeit aufgenommen hatte – es wurde plötzlich so anmaßend, ihm Vorwürfe zu machen. Obgleich er Alles daran gesetzt hatte, sie an seine feurige Liebe glauben zu machen, meinte er doch innerlich, es sei eine grenzenlose Eitelkeit von der kleinen Buckligen, sich einzubilden, sie könne in der That eine solche Neigung einflößen; auch erkannte er voll Ingrimm, daß er es hier mit dem „hartnäckigsten Eigensinn und einer widerwärtigen Sentimentalität“ zu thun habe. Es kostete ihm unsägliche Mühe, sich zu beherrschen, aber er that es, und es glückte ihm sogar ein Lächeln mit einem Anstrich von Melancholie, was ihn in diesem Augenblick sehr interessant erscheinen ließ.

„Wenn Du hörst, weshalb ich vorhin heiter ausgesehen habe, so wirst Du Deinen Vorwurf gewiß bereuen,“ sagte er. „Ich vergegenwärtigte mir nämlich den Moment, wo ich vor Deinen Bruder hintreten und sagen darf: ‚Helene hat sich entschlossen, künftig in meiner Familie zu leben,‘ und ich leugne nicht, daß ich das mit einer Art von Genugthuung dachte; denn er hat ja von jeher meine Liebe zu Dir mit scheelen Augen angesehen.“

Helene bemühte sich, das, was er vorgab, mit seinem Aussehen von vorhin in Einklang zu bringen, und es harmonirte denn auch vortrefflich. Sie reichte ihm aufathmend die Hand.

„Ich glaube Dir,“ sagte sie innig, „der Verlust dieses Glaubens wäre ja auch mein Todesurtheil … Ach, Emil, Du darfst mich nie, niemals hintergehen; auch nicht, wenn Du denkst, daß es zu meinem Heile sei – ich will lieber eine schlimme Wahrheit hören, als den qualvollen Verdacht mit mir schleppen, daß Du nicht wahr gegen mich seiest … Ich habe eine schreckliche Nacht gehabt, aber jetzt bin ich gefaßter und bitte Dich, mir die Idee mitzutheilen, von der Du gestern sprachst. Das fühle ich klar, ich werde nicht eher mein inneres Gleichgewicht wieder erlangen, als bis ich das Gesicht kenne, das für die Zukunft zwischen uns stehen soll. Bis jetzt ist dieses Wesen nur noch ein Phantom für mich, und ich glaube, eben in dieser Unsicherheit liegt die quälende Unruhe, die mich verzehrt … also den Namen, Emil, ich bitte Dich inständig!“

Hollfeld’s Augen irrten wieder am Boden. Die Sache schien ihm sehr mißlich in diesem Augenblick.

„Weißt Du auch, Helene“ begann er endlich, „daß ich großes Bedenken trage, heute die Angelegenheit mit Dir zu besprechen? … Du bist sehr angegriffen; ich fürchte, ein eingehendes Gespräch macht Dich krank. Und dann muß ich sagen daß mir mein gestriger Gedanke, je öfter ich ihn beleuchte, immer praktischer erscheint; es sollte mir deshalb sehr leid thun, wenn Du in der Aufregung seine vortheilhaften Seiten übersähest.“

„Das werde ich ganz gewiß nicht!“ rief Helene, sich lebhaft emporrichtend, ihr Auge hatte einen fieberhaften Glanz. „Ich habe mich überwunden und bin bereit, mich in das Unvermeidliche zu fügen … Ich verspreche Dir, so völlig unparteiisch zu sein, als ob – ich nicht liebte.“ Sie erröthete, denn zum ersten Mal sprach sie das Wort aus.

„Nun denn,“ sagte Hollfeld zögernd – er vermochte nicht ganz seine innere Erregung zu beherrschen – „was meinst Du zu dem jungen Mädchen auf Gnadeck?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_242.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)