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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

beschäftigt, auf ihre Lippen, aber sie schwieg pflichtschuldigst, weil Hollfeld es wünschte. Ebensowenig hatte er erlaubt, daß sie Elisabeth in den ersten Tagen zu sich berufen durfte, denn er fürchtete, vielleicht nicht mit Unrecht, sie möchte ihm in ihrer Aufregung das Spiel bei dem jungen Mädchen verderben. Er selbst hatte bereits die ersten Schritte gethan, um sich Elisabeth wieder zu nähern. Er war schon zweimal vor dem Mauerpförtchen erschienen, um „der Familie von Gnadewitz“ seine Aufwartung zu machen, aber, ob er auch den Klingelgriff fast abgerissen hatte, es war ihm doch nicht aufgethan worden. Das erste Mal war in der That Niemand zu Hause gewesen; gestern jedoch hatte Elisabeth ihn kommen sehen. Die Eltern waren mit Ernst im Forsthause, und Miß Mertens erklärte sich mit der Absicht des jungen Mädchens, den Besuch nicht einzulassen, völlig einverstanden. Die Beiden saßen lachend oben in der Wohnstube, während die kleine Mauerglocke sich fast heiser läutete. Von diesem Complot hatte der Untenstehende freilich keine Ahnung. –

Es war sieben Uhr Morgens. Helene lag bereits angekleidet auf ihrem Ruhebett; sie hatte sich die ganze Nacht schlummerlos auf ihrem Lager umhergeworfen. Die Baronin schlief noch, Hollfeld war ebensowenig sichtbar, allein sein konnte und wollte die junge Dame um keinen Preis, deshalb hatte die Kammerfrau eine Handarbeit nehmen und sich zu ihr setzen müssen. Was das Mädchen plauderte, es flog unverstanden an ihren Ohren vorüber, aber nichtsdestoweniger hatte der Klang einer menschlichen Stimme nach der einsamen, fieberhaften Nacht etwas Beschwichtigendes für sie.

Das Geräusch eines näherkommenden Wagens ließ plötzlich die Erzählerin verstummen. Helene öffnete das Fenster und bog sich hinaus. Eben verließ die zurückkehrende Equipage ihres Bruders die Chaussee und ihre Räder sanken tief ein in den hochaufgeschichteten, knirschenden Kies des breiten Parkfahrweges. Der Wagen war leer.

„Wo ist Dein Herr?“ rief Helene dem Kutscher zu, als er ziemlich nahe vorüberfuhr.

„Der gnädige Herr sind auf der Chaussee ausgestiegen,“ antwortete der alte Mann, seinen Hut abnehmend, „und kommen zu Fuße über den Berg, bei dem Gnadecker Schloß vorüber.“

Die junge Dame schlug das Fenster zu und schauerte zusammen, als fröstele sie; das einzige Wort „Gnadeck“ hatte ihre Nerven berührt, wie ein elektrischer Schlag. Sie konnte nichts mehr hören, was sie an Elisabeth erinnerte, ohne jenen jähen Schrecken zu empfinden, den z. B. eine plötzlich erscheinende Spukgestalt unserer Einbildungskraft verursacht.

Sie erhob sich und ging, gestützt auf die Kammerfrau, hinunter in die Zimmer ihres Bruders. In dem Salon, dessen Glasthüren auf die Freitreppe mündeten, ließ sie ein Frühstück serviren und setzte sich, den Zurückkehrenden erwartend, in einen Lehnstuhl. Sie nahm eines der prachtvoll gebundenen Albums, die auf den Tischen umherlagen, auf den Schooß; mechanisch wendete ihre Hand die Blätter um, ihre Augen ruhten wohl auf den feinen Stahlstichen, aber sie hätte um Alles nicht zu sagen gewußt, ob sie ein Portrait oder eine Landschaft ansehe.

Nach halbstündigem Warten erschien endlich die hohe Gestalt ihres Bruders in der Glasthür. Sie ließ das Buch von ihrem Schooß heruntergleiten und streckte dem Eintretenden die Hand entgegen. Er schien überrascht von dem Empfang, aber es berührte ihn offenbar sehr wohlthuend, die Schwester nach so langer Zeit wieder einmal allein und für seine Bequemlichkeit zärtlich besorgt zu sehen. Rasch eilte er zu ihr hin, allein ein zweiter Blick, den er auf ihr Gesicht warf, machte ihn stutzen.

„Fühlst Du Dich kränker, Helene?“ fragte er besorgt, indem er sich neben sie setzte. Er schob seinen Arm unter ihren Rücken und hob sie sanft ein wenig höher, um besser in ihr Gesicht sehen zu können. Es lag so viel Bekümmerniß und zärtliche Theilnahme in seinem Blick und Ton, daß es ihr war, als zöge plötzlich eine milde Frühlingsluft schmelzend durch ihr schmerzerstarrtes Innere. Zwei schwere Thränen rollten über ihre Wangen und sie drückte ihr Gesicht fest an die Schulter ihres Bruders.

„Hat Fels in diesen Tagen nicht nach Dir gesehen?“ fragte er beklommen. Das Aussehen des jungen Mädchens versetzte ihn offenbar in heftige Sorge.

„Nein – und ich habe auch ausdrücklich befohlen, daß man ihn nicht rufen solle. Ich nehme die Tropfen, die er mir für meine Nervenanfälle verschrieben hat; mehr können er und ich nicht thun… Aengstige Dich nicht, Rudolph, es wird wohl auch einmal wieder besser mit mir … Du hast eine schwere Zeit in Thalleben durchmachen müssen?“

„Ja,“ entgegnete er, während sein Auge noch immer ängstlich auf den merkwürdig veränderten Zügen der Schwester ruhte. „Ich fand den armen Hartwig nicht mehr am Leben; ein Schlagfluß hatte seinen unaussprechlichen Qualen rasch ein Ende gemacht … Gestern Abend wurde er beigesetzt. Seine unglückliche Frau würdest Du nicht wiedererkennen, Helene, sie ist über Nacht zur Matrone geworden.“

Er theilte ihr noch Näheres mit über den Unglücksfall, dann strich er mit der Hand über die Augen, als wolle er damit all’ den Jammer, den er in den letzten Tagen mit angesehen, wegwischen.

„Nun, und finde ich hier Alles beim Alten wieder?“ frug er nach einem kurzen Schweigen.

„Nicht ganz,“ antwortete Helene zögernd, „Möhring hat gestern unser Haus verlassen … und auf dem Berge, bei den Ferbers, ist das Glück eingekehrt,“ fuhr sie mit gepreßter Stimme und abgewendetem Gesicht in ihrem Bericht fort.

Der Fauteuil, auf welchem sie saß, erhielt plötzlich einen Ruck an der Seite, wo ihr Bruder seinen Arm aufgestützt hatte. Sie sah nicht auf, und deshalb bemerkte sie nicht, wie das Gesicht neben ihr für einen Augenblick mit einer fahlen Blässe überzogen wurde und wie die bebenden Lippen zweimal vergebens sich mühten, um endlich das einzige Wörtchen „nun?“ hervorzubringen.

Helene erzählte die Begebenheit in den Ruinen, während ihr Bruder aufathmend zuhörte. Mit jedem Wort weiter schien ihm ein Stein vom Herzen zu fallen; er ahnte freilich nicht, daß jedes dieser Worte wie ein zweischneidiges Schwert in dem Herzen der Erzählerin wühlte und daß diese Mittheilung bereits der Anfang eines furchtbaren Opfers war, das sie bringen sollte.

„Das ist in der That eine wunderbare Lösung alter Räthsel,“ sagte er, nachdem Helene geendet hatte. „Ob aber die Familie es für ein Glück hält, dem Geschlecht der Gnadewitz anzugehören, bezweifle ich.“

„Ah, Du meinst,“ unterbrach ihn Helene rasch, „weil das junge Mädchen einst sehr viel an dem Namen auszusetzen hatte? … Ich kann mir nicht helfen, aber ich denke bei dergleichen Dingen manchmal unwillkürlich an die Trauben, die dem Fuchs zu sauer sind.“ Sie sprach die letzten Worte mit einer schneidenden Schärfe. Soweit ging ihre leidenschaftliche Aufregung und Bitterkeit, daß sie ihre bessere Einsicht verleugnete und die Gesinnungen eines Wesens verdächtigte, das sie nie beleidigt und welches sie früher bei unparteiischer Anschauung als eines der reinsten bezeichnet hatte.

Ein Ausdruck des höchsten Erstaunens erschien in Herrn von Walde’s Zügen. Er bog sich nieder und sah forschend in das gesenkte Gesicht der Schwester, als wolle er sich überzeugen, ob es wirklich ihr Mund gewesen sei, der diese herben Worte gesprochen hatte.

In diesem Augenblick sprang Hollfeld’s Jagdhund die Stufen herauf, machte einige täppische Sprünge durch das Zimmer und verschwand sofort wieder auf einen grellen Pfiff, der über den breiten Kiesplatz herüberscholl. Sein Herr ging drüben vorüber. Er schien nicht zu wissen, daß Herr von Walde zurückgekehrt war, sonst würde er doch gewiß gekommen sein, ihn zu begrüßen. Er schritt eilig vorwärts und bog in den Weg ein, der hinauf nach Gnadeck führte. Helenens Blicke folgten der Gestalt, bis sie verschwunden war, dann sank sie mit krampfhaft gefalteten Händen in den Stuhl zurück; es sah aus, als versagten ihr momentan die Kräfte.

Herr von Walde schenkte ein wenig Rothwein in ein Glas und hielt es an ihre Lippen. Sie sah dankbar auf und versuchte zu lächeln.

„Ich bin noch nicht zu Ende mit meinem Bericht,“ begann sie wieder und richtete sich auf aus ihrer halbliegenden Stellung. „Ich mache es, wie der Romandichter, der den Haupteffect bis zuletzt aufhebt;“ es war nicht zu verkennen, daß sie während dieser Vorrede, die scherzhaft klingen sollte, nach Kraft und Festigkeit rang, um das, was sie sagen mußte, ruhig vorzubringen. Ihr Auge haftete angestrengt auf einem der gegenüberliegenden Bosquets, während sie fortfuhr: „Unserem Hause steht ein glückliches Ereigniß bevor, Emil – wird sich verloben.“

Sie hatte sicher erwartet, ihr Zuhörer werde sofort seine

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 244. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_244.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)