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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Stückchen Land zur Lust im Freien pflegt, wird es so anmuthig wie möglich herrichten. In diesem sogenannten Garten war nichts zu finden, als zwischen der hohen, öden Dornenhecke die alte Wiesenfläche mit einem schnurgeraden Wege vom verschlossenen Eingang bis zu einer durchsichtigen Laube in der Mitte des Wiesenstücks. Kein Blumenbeet, kein lauschiges Plätzchen, – nichts, als der schnurgerade Kiesweg zum Auf- und Abwandeln, ausschließlich dem gesundheitsgemäßen Athmen frischer Luft gewidmet und doppelt bewacht, durch die Dienerin – die beim Auf- und Zusperren der Garten- und der Schloßthür der Gräfin den Rücken zukehren mußte, um sie nicht zu sehen! – vor der Thür und den Grafen am Fenster.

„Nicht ein einziges Mal durfte das arme Geschöpf frei und allein die Treppe herunter und in den nur etwa vierzig Schritt vom Schloß entfernten Garten gehen, nicht ein einziges Mal frei und allein mit irgend einem Menschen sprechen, nicht ein einziges Mal allein spazieren fahren, – Tag und Nacht ließ der eine, der einzige Mann, an den ihr ganzes Leben gekettet war, sie nicht aus den Augen; er allein bediente sie sogar beim Essen, und er allein hat den letzten Seufzer der Sterbenden belauscht!

Und wie das schwache Weib mit Gewalt, so war auch der alte Kammerdiener und Kutscher an die Person des Grafen gefesselt, – und dies muß unsere Verwunderung um so mehr erregen, als dieser, wenn er aus dem unnatürlichen Zwang sich befreien wollte, ja jeden Augenblick hätte entfliehen können. Was band oder bannte ihn so fest an den Grafen? Sollte es nur die lange Gewohnheit und die, was Lebensbedürfnisse betrifft, angenehme dienstliche Stellung gewesen sein – oder war es eine Mitschuld, ein schwer zu verantwortendes Mitwissen eines gefährlichen Geheimnisses? Wir wissen wenigstens, daß er viel an Gewissensunruhe litt. Er bat einst den Pfarrer, ihm heimlich beichten und von ihm das heil. Abendmahl empfangen zu dürfen; der Pfarrer stieß sich an die Verheimlichung dieses Acts und wies ihn ab. Auf dem Sterbebette flehte er um geistlichen Zuspruch – aber nun stand der Graf zwischen ihm und seinem letzten Wunsch – er mußte einsam sterben und seine Gewissenslast mit in das Grab nehmen.

Das Geheimniß war abermals gerettet. Man hat Zweifel gegen das Gefangenschaftsverhältniß der Dame erhoben, indem man annahm, daß sie, wenn sie wirklich gewollt, doch irgend einmal Gelegenheit zur Flucht oder zum Hülferuf hätte finden können. Dem gegenüber steht die totale Hülflosigkeit derselben, der ungepflegte Geist, die körperliche Zartheit und Unbehülflichkeit und – die lange, lange Gewohnheit, abgesehen von der strengen und entschlossenen Männlichkeit des Grafen, die sie mit Furcht erfüllen mußte, mit Zittern und Zagen, schon bei dem Gedanken an eine Flucht. Und wohin sollte sie fliehen, die im fremden Lande keine Seele kannte, vielleicht seit ihrer Kindheit frei mit keinem Menschen gesprochen hatte, von den Verhältnissen der Welt sicherlich gerade nur so weit unterrichtet war, als es für die Sicherheit des Wächters zuträglich erschien?

Dazu darf man nicht vergessen, daß bis zum Tode der Gräfin ein Verdacht gegen den Grafen, daß er der Wächter eines Geheimnisses sei, durchaus nicht gehegt wurde. Die Dame galt für seine Gemahlin, von der ängstlichen Bewachung derselben war noch keine Kunde aus dem Schloß herausgetragen worden, alle Diener hielten das tiefste Schweigen und waren nur voll Lobes über den gegen alle der Hülfe würdigen Personen, Anstalten etc. glänzend wohlthätigen Herrn. Allerdings zerbrach sich das Volk den Kopf über die Zurückgezogenheit der Frau Gräfin, aber man nahm lieber zu dem Wunderlichsten seine Zuflucht, um einen Erklärungsgrund für diese seltsame Geschichte zu finden, als daß man sich zu einem Zweifel in die rechtliche Stellung beider Personen erkühnt hätte. Man erzählte sich nämlich, daß das Gesicht der Dame durch einen Schweinsrüssel entstellt sei. Ein Coburger Friseur wollte die verschleierte Dame einmal frisirt und, als zufällig dabei sich der Schleier verschob, das Ungeheuerliche mit seinen eigenen Augen gesehen haben. Das schöne Gesicht der Gräfin, das Andere mit derselben Bestimmtheit gesehen haben wollten, wurde für eine Maske erklärt, wie man denn sogar nicht einmal an ihren Tod glauben wollte, sondern behauptete, es habe eine Wachsfigur im Sarge gelegen, während sie selbst nächtlicherweile vom Schlosse fortgeschafft worden sei.

Erst als nach dem Tode der Dame der Graf dem Ortsgeistlichen und dem Gericht erklärte, daß sie nicht seine Gemahlin, sondern nur „seine Lebensgefährtin“ gewesen und Sophie Botta geheißen, aus Westphalen gebürtig, ledigen und bürgerlichen Standes und achtundfünfzig (man schätzte sie höchstens auf fünfundvierzig) Jahre alt gewesen, wurde die Fama lebendig. Dennoch war die Achtung vor dem „Wohlthäter des Landes“ so groß, daß sie erst laut wurde, als er gestorben war.

Wie dann das Volk sich die Geschichte zurecht legte, ist wohl erzählenswerth. Es hieß: Der sogenannte Herr Graf sei eigentlich ein Arzt oder Chirurg, in den sich eine französische Königstochter verliebt habe. Beide seien aus Frankreich entflohen und der Mann habe seine Frau unter vielen Entbehrungen an verschiedenen Orten Deutschlands als Chirurg ernährt; zwei Kinder, die sie gehabt, wären rasch nacheinander gestorben. Auch in Neuseß bei Coburg hätten sie einige Zeit gewohnt. Da sei einmal der König von Frankreich durch Coburg gereist und habe seine Tochter zu sich in den Gasthof kommen lassen, und dabei sei eine Versöhnung zwischen Vater und Tochter zu Stande gekommen und auch dem Mann habe er seinen Fehltritt verziehen. Er habe die Ehe nicht getrennt, auch versprochen, Beide heimlich zu unterstützen, damit sie ein standesmäßiges Leben führen könnten, nur müßten sie in aller Heimlichkeit miteinander leben und Niemand auf der Welt dürfe erfahren, wer ihr Vater sei.

Es sieht recht wunderlich aus, was das Volk sich zusammengedichtet, und doch liegt’s vielleicht näher an der Wahrheit als manche andere Hypothese, welche gelehrter Scharfsinn über dem Dunkel aufgebaut.

Daß des „Grafen“ Abgeschlossenheit keine freiwillige war, hat er selbst später offen ausgesprochen.[1] „Meine Zurückgezogenheit war lange eine gezwungene, in letzter Zeit aber war sie freiwillig.“ – „Wenn ein Mann etwas früher gestorben wäre, so würde ich in die Welt zurückgekehrt sein.“ – Ueber seine Lebensgefährtin äußerte er: „Sie war eine arme Waise, die Alles, was sie besaß, mir verdankte, aber mir das tausendfach vergolten hat.“ – „Meine Verbindung mit ihr hatte etwas Romantisches, einer Entführung Aehnliches.“ – Und der Kammerdiener sagte einmal: „Sie hat kein Vermögen, aber – sie ist die Herrin über Alles.“

Wie stimmt aber dazu folgende Aeußerung des Grafen nach der gerichtlichen Versiegelung ihres Nachlasses: „Sie hat seit dreißig Jahren keinen Heller auszugeben Gelegenheit gehabt, zeichnete ihre Wäsche nur mit Bleistift auf, konnte auch an Niemand schreiben, da sie keine Bekannten hatte. … Ich habe immer, wie mit religiöser Scheu, ihre vielen Kommoden betrachtet, nie sie berührt; ich wußte nicht, wie viel schöne, ihr aufgedrungene Sachen sie enthielten.

Hier artet denn doch der Widerspruch bis zur offenbaren Unwahrheit aus! Sie hat seit dreißig Jahren an Niemanden geschrieben, weil sie Niemanden hat – und doch werden ihr schöne Sachen aufgedrungen, und zwar weiß der Graf nicht einmal, wie viel, er, der über jeden Athemzug der armen Eingesperrten wacht!

Nach dieser Probe von Rechtfertigung verdient nun auch Das behandelt zu werden, was er als Nachlaß in die Hände des Gerichts fallen und dadurch der Oeffentlichkeit zukommen ließ; – vielleicht weniger jedoch das, was er in einer Unterredung dem als Arzt und Schriftsteller berühmten Obermedicinalrath Carl Hohnbaum in Hildburghausen mittheilte. Der damals fast siebzigjährige Einsiedler war von Tod und Nachlaßversiegelung seiner Lebensgefährtin so angegriffen, daß er gerade diesen Arzt holen ließ, nicht um ärztlichen, sondern um menschlichen Rath zu empfangen. Aus dieser Unterredung sind folgende Bemerkungen des Grafen von Gewicht. Es entfielen ihm Andeutungen, daß er die Glieder der Bourbonischen Familie genau gekannt, daß er bei einer Gesandtschaft in Paris und auch in London gewesen sei, daß er in Paris mit Lafayette und Benjamin Constant verkehrt habe, am Hofe in Weimar mit Livländern und Kurländern zusammengetroffen, in Jena zur Zeit Schiller’s gewesen und dort Loder genau gekannt habe. Auch einer Reise nach Wien zum Kaiser Alexander erwähnte er: „Denken Sie, damals war die Dame schon bei mir; ich mußte unaufhaltsam mit Courierpferden reisen;

  1. Wir haben im Artikel von 1863 von dem seltsamen Briefwechsel erzählt, welchen der Graf mit dem ehrwürdigen Pfarrer von Eishausen anknüpfte und den er nach dessen Tode mit der Wittwe des Pfarrers, die nach Hildburghausen gezogen war, fortsetzte. Diesem Briefwechsel verdankt man die meisten der hier mitgetheilten Selbstgeständnisse des Unbekannten.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 377. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_377.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)