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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

No. 29.

1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Blaubart.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Später ging die Hofräthin in die Stadt, um einen Krankenbesuch zu machen. Lilli benutzte diese Gelegenheit und durchstreifte Haus und Garten; sie suchte auch den Pavillon wieder auf. Ein Glück, daß Tante Bärbchen ihren Morgenspaziergang auf den Kiesweg drüben beschränkt hatte, denn die Pavillonthür stand noch weit offen, und offene Thüren und Fenster während der Nacht waren der Hofräthin ein Gräuel. Lilli öffnete die Jalousieen der zwei Fenster, die nach Tante Bärbchens Garten gingen. Das helle Licht fiel auf die trauten Wände und Geräthschaften; Alles stand noch unverrückt an seinem Platze, nichts schien berührt worden zu sein während der dreijährigen Abwesenheit des jungen Mädchens. Während ihres letzten Aufenthaltes bei Tante Bärbchen hatte Lilli noch sehr fleißig mit ihren Puppen gespielt. Am Tage vor ihrer damaligen Rückreise nach der Heimath waren sämmtliche Bewohner der großen Puppenstube festlich geschmückt worden, denn es handelte sich um eine Abschiedsfête. Da saßen sie noch mit steif ausgestreckten Armen, mühsam in eine sitzende Stellung gezwängt, um den großen, runden Tisch – eine kurzweilige Gesellschaft. Ein großer Hanswurst kauerte trübselig und aus dem kaffeetrinkenden Damenkreise verbannt in einer Ecke des Pavillons, und das dicke Wickelkind in der Wiege wartete noch ebenso hülfsbedürftig, wie damals, auf pflegende Hände. Das junge Mädchen fühlte sich plötzlich der Gegenwart entrückt. Sie kauerte vor dem Puppenzimmer auf dem Boden nieder und vergegenwärtigte sich lächelnd, was Alles sie diese kleinen, hohlköpfigen Wesen hatte denken und erleben lassen. Sie hatte in der Zwischenzeit lernen, entsetzlich viel lernen müssen, um ihren Geist auszubilden, aber ihr Empfinden war dasselbe geblieben. Und da standen auch noch alle die alten Möbel, die sie so lieb hatte. Sie stammten aus jener Zeit, wo die Mitglieder der zwei Familien sich hier einträchtig versammelt hatten. An den Wänden hingen Oelbilder, sämmtlich von Erich Dorn, Tante Bärbchens Großvater, gemalt. Sie verriethen ein sehr mittelmäßiges Talent und in ihren Motiven das umdüsterte Gemüth des Malers. Er hatte sich vorzugsweise in der Darstellung dunkler, grauenhafter Momente aus der Mythologie und Weltgeschichte gefallen. Gerade über Lilli’s harmloser Spielecke hing ein größeres Gemälde, das in früheren Zeiten manchmal, namentlich bei hereinbrechender Abenddämmerung, ihr kindliches Gemüth mit panischem Schrecken erfüllt hatte. Es war ein Orest, den die Furien verfolgen. Mit flüchtigem Pinsel und einer gewissen Hast gemalt, war es auffallend verzeichnet in den Proportionen, Fehler, die den Eindruck des Bildes zu einem lächerlichen hätten machen können, wäre nicht der Kopf des Orestes gewesen; aber dieses Gesicht hatte etwas Ueberwältigendes in seinem Ausdruck. Nicht das haarsträubende Entsetzen in den Zügen war es allein, was den widerstrebenden Blick des Beschauers immer wieder fesselte; tiefer noch ergriffen die namenlos bittern Schmerzen der Reue, welche der sonst so ungelenke, steife Maler mit wahrer Meisterschaft diesem Antlitz aufgedrückt hatte.

Kurz vor seinem Tode hatte Erich Dorn die Bilder eigenhändig hier aufgehangen. Er weilte gern und viel unter seinen Schöpfungen, und das letzte Wort, das er bei seinem plötzlichen Scheiden aus dieser Welt mühsam hervorgestammelt, war „der Pavillon“ gewesen. Seine Frau betrachtete deshalb auch das kleine Gartenhaus wie ein heiliges Vermächtniß. Sie sah streng darauf, daß die Bilder genau so hängen blieben, wie die geliebte Hand sie geordnet hatte, und ihr Sohn, wie auch Tante Bärbchen, mußten ihr wiederholt versprechen, daß sie das Gebäude sammt seiner kleinen Gemäldesammlung vor dem Untergange behüten wollten. Daran dachte Lilli jetzt, als sie sinnend vor dem Orestesbilde stand. Sie begriff vollkommen, daß die Tante den Mann verabscheuen müsse, der sie zwingen wollte, ihr Gelöbniß zu brechen. Aber vielleicht, wenn die Hofräthin ihren Groll gegen die andere Linie der Dorn’s überwunden und dem jungen Nachbar ruhig vorgestellt hätte, weshalb sie die Erhaltung des Pavillons wünschen müsse, vielleicht wäre er da, trotz seiner Wildheit, doch von der Vernichtungsidee abzubringen gewesen.

Dieser Gedankengang des jungen Mädchens wurde plötzlich unterbrochen durch ein Geräusch drüben im Garten des Nachbars. Sie hörte deutlich, daß mehrere Männer auf den Pavillon zuschritten und plötzlich Halt vor demselben machten. Durch die Lücken der Jalousie sah sie, wenn auch nur bruchstückweise, die Gestalt eines Arbeiters im Schurzfell und mit Handwerksgeräth beladen. Neben ihm standen der Neger und noch ein Anderer in Livree. Was beabsichtigten sie?

„Na, Ihr sollt sehen,“ sagte der Arbeiter lachend zu den Andern, „ich werde ein Loch in das alte Nest machen, daß ihm das Lebenslicht bald ausgehen soll… Da wird ja wohl die Alte da drüben endlich merken, daß Herr von Dorn nicht mit sich spaßen läßt.“

In demselben Moment erdröhnte die Wandseite, an welcher der Orestes hing, unter einem furchtbaren Schlag. Lilli riß das Bild herab und zog die Bank, auf der die Puppengesellschaft residirte, tiefer in’s Zimmer. Fast unmittelbar darauf erfolgte draußen ein zweiter Anprall; unter einem schrecklichen Poltern und Geprassel löste sich ein ungeheures Stück Lehmfachwerk und stürzte herein in

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 449. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_449.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)