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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

in hellen Muslin gehüllte Gestalt stand unbeweglich, wie ein geduldig wartendes Kind, in der Wandöffnung; mit der Rechten stützte sie sich auf einen Balken, und ihr Gesicht leuchtete fast in geisterhafter Blässe auf dem dunklen Hintergründe der Pavillonwände. … Ein Zweig streifte die Stirn des einsam Wandelnden; er sah auf und in demselben Moment in Lilli’s Augen. Er blieb wie angewurzelt stehen.

„Lilli!“ rief er mit unsagbarem Ausdrucke; in diesem Tone stritten Wonne und Schmerzen, zitternde Furcht und Jauchzen. … Mit wenig Schritten stand er neben ihr. Er nahm ihre Hand, sie ließ es ruhig geschehen; in athemloser Spannung bog er sich nieder, um in ihren Zügen zu lesen; sie lächelte und ihr Blick wich nicht zurück vor seinen in fieberhafter Hast forschenden Augen.

„Lilli,“ begann er endlich mit vibrirender, aber vor Aufregung fast klangloser Stimme, „Ihr Erscheinen hier wäre eine entsetzliche Grausamkeit, wenn nicht …“ er brach ab und ließ ihre Hand sinken.

„Ich wollte Sie nicht wiedersehen,“ hob er abermals an. „Eben, weil Ihr Anblick mir zum Leben nothwendig geworden war, wie das Athemholen, eben darum mußte ich nach Ihrer Erklärung meinen aufrührerischen Gefühlen den Damm des mir selbst gegebenen Wortes entgegenstellen, wenn ich nicht in den Fall kommen wollte, mich selbst verachten zu müssen. … Ich gehöre zu den Naturen, für welche das, was sie einmal lieben, in Erz gegraben ist; ich werde Sie nie vergessen, Lilli, nie! Aber ich bin auch weit davon entfernt, mir selbst in der Hingebung an einen nagenden Seelenschmerz zu gefallen. … Ich gehe, Lilli! Es wird ein weiter Raum zwischen uns liegen, und vielleicht, vielleicht übt einst auch die Zeit ein wenig Heilkraft an mir. … Ich kann in diesem Augenblicke noch nicht sagen: ‚Werden Sie glücklich!‘ Das hieße sich selbst an’s Kreuz schlagen, und zu einem Märtyrer fehlt mir die Duldsamkeit; der Gedanke, daß Sie je einem Anderen gehören könnten, macht mir das Blut sieden, und jener Wunsch könnte leicht zu einer Verwünschung werden…“

Er hielt plötzlich inne, und sein durchdringender Blick richtete sich über Lilli hinweg fest auf einen Punkt. Das junge Mädchen wandte sich um. Dort in der Thür stand die Hofräthin; noch lag jenes fahle Grau auf ihren Zügen, das die unselige Entdeckung hervorgerufen; das Gesicht sah in diesem Augenblicke merkwürdig verfallen aus, aber ihre großen, hellen Augen ruhten mit einem seltsamen Glanz und unerklärlichen Ausdruck auf dem Paare.

Lilli näherte sich ihr nicht. Sie trat vielmehr dicht an die Seite des neben ihr Stehenden, als sei dies einzig ihr Platz und kein anderer auf der Welt.

„Tante, Du kommst zu spät!“ sagte sie fest und auf ihrem erst so bleichen Gesichte lag ein tiefes Roth. „Wenn er mich nicht verstößt, weil ich ihn in thörichter Ueberschätzung meiner Kraft tief verwundet habe, so bin ich sein! … Du bist die Wohlthäterin meiner Familie, Tante Bärbchen, Du hast mich, so lange ich denken kann, geliebt und gehegt wie Dein eigenes Kind; bis noch vor kurzer Zeit standest Du neben meinen Eltern in meinem Herzen, und über Euch, meinte ich, sei kein Raum mehr. … Wie hat sich das geändert! … Aber ich wollte es erzwingen, daß mein Dankgefühl für Dich die Oberhand behielte. Gott allein weiß es, wie ich in den letzten Tagen gerungen und gelitten habe; aber verschließe Deine Augen vor dem Lichte, es ist ja doch da; wehre der Lebenslust, daß sie Dich nicht umschließe, es würde ebenso erfolglos sein, als der Kampf mit der ewigen Liebe! … Nenne mich undankbar, entziehe mir Deine Liebe, ich werde namenlos traurig sein, aber – ich gehe mit ihm!“

Sie ruhte längst an seinem Herzen. Schon nach ihren ersten Worten hatte er die Arme fest um sie geschlungen, und es sah in der That jetzt aus, als wolle der glückliche Sterbliche seine so schwer errungene Nixe sofort hinüber in sein Haus tragen. Die hohe Gestalt dort und ihre muthmaßlichen Einwürfe existirten für ihn nicht mehr. Wie trunken hingen seine Augen an den Lippen des jungen Mädchens, das mit wenigen energischen Worten ihm das Recht auf ihren Besitz einräumte.

Die Hofräthin war indessen näher getreten, und um ihren strenggeschnittenen Mund zuckte es wie ein krampfhaftes Weinen – für Lilli eine niegesehene Erscheinung.

„Kind, Du hast doch wohl keinen rechten Begriff davon gehabt, wie gut ich Dir bin, sonst hättest Du mir mehr Vertrauen gezeigt!“ sagte sie ungewöhnlich mild. „Nun, ich will nicht mit Dir streiten, denn den größten Theil der Schuld hab’ ich mir freilich selbst zuzuschreiben. Trotz meiner Vorurtheile würde ich doch die Sache mit ganz anderen Augen angesehen haben, als Du voraussetztest… Ich würde Dir nur Eines zu bedenken gegeben haben, und das thue ich auch in diesem Augenblick noch: Du willst diesem Mann Deine ganze Zukunft anvertrauen und kennst seine Vergangenheit nicht; das Wenige, das wir wissen –“

„O Tante, nicht ein Wort weiter!“ rief Lilli heftig und legte zugleich dem Geliebten, der sprechen wollte, die Hand auf den Mund. „Das Wenige, das wir wissen, oder das wir vielmehr in uns selbst beschämender Weise vermuthet haben, beruht gerade auf einer seiner edelsten Handlungen, Du wirst ihm abbitten müssen, so gut wie ich!“

„Und Dein Vater?“

„Er wird meine Wahl segnen, wenn er Dorn kennen lernt!“

„Nun, dann habe auch ich nichts mehr zusagen, als daß Dein Entschluß auch mich glücklich macht… Lilli, es ist in Deine Hand gegeben, ein großes Unrecht der Erichs an den Huberts gut zu machen!“

Kurze Zeit darauf standen die Drei in der grünen Stube, vor dem verhängnißvollen Bilde. Tante Bärbchen hatte mit bebenden Lippen den Moment der Entdeckung geschildert und bot schließlich ihrem bisherigen vermeintlichen Widersacher die Hand zur Versöhnung. Er reichte ihr herzlich die Rechte, mit der Linken jedoch ergriff er plötzlich das Bild und warf es in den Kamin.

„Es ist ein Raub an der Menschheit,“ sagte er gelassen, „aber besser, ein Kunstwerk weniger in der Welt, als daß es durch seinen Anblick schmerzliche Erinnerungen heraufbeschwöre.“

„Nein, nein!“ rief die Hofräthin und riß es aus den hochauflodernden Flammen, die bereits an den Fetzen des Orestesbildes gierig leckten. „Es soll fortbestehen zur Freude Anderer und mir zur steten Mahnung, daß wir Menschen sind und leichtlich irren können!“

„Am andern Tag hantirten Arbeiter lustig in den beiden Gärten, die grüne Hecke fiel und mit ihr der Pavillon. Der Rechen zog seine feinen Furchen über den Streifen Erde, aus welchem einst „Reiser bis in den Himmel wachsen sollten“, und da, wo noch vor Kurzem das unheilvolle Orestesbild von der Wand herniedersah, schauen jetzt holde, unschuldige Blumenaugen in die Welt.

Die geheimnißvolle Unbekannte wandelt Abends mit immer matter werdenden Schritten durch beide Gärten, ihre Furcht und Scheu sind verschwunden. Sie weiß sich ja von zärtlicher Theilnahme und Liebe umgeben und behütet; besonders eifrig ist Dorte um sie bemüht; sie sucht das zu sühnen, was einst ihr verleumderischer Mund verbrochen hat. Sauer, den wir zuletzt sahen, wie er mit einknickenden Knieen aus der grünen Stube wankte, hat jetzt einen weit größeren Spielraum für die verbotenen Wolken seines schrecklichen Knasters. Seine langen Rockflügel streifen über den feinen, englischen Sammetrasen in Nachbars Garten. Er ist noch viel unduldsamer gegen Dortens haarsträubende Teufelsgeschichten geworden, seit er weiß, daß der Neger – nach ihrer ehemaligen Behauptung ein Sohn der Hölle – das treueste und ehrlichste Herz unter der Sonne hat.




Der Winterschlaf der Thiere.
Von Ferdinand Siegmund.


Zu Mariä Geburt, heißt es im Volksmunde, ziehen die Schwalben fort. Die lieben Vöglein wandern in ferne fremde Länder, weil der kalte, unheimliche Winter naht und sie daheim keine Nahrung finden. Kommt aber der Frühling wieder in’s Land, da kehren sie zurück zum heimathlichen Heerd, denn wo sie geboren sind, wo sie bauten, da ist ja ihr wahres Vaterland. Dieses Wandern ist also eine Nothwendigkeit, es ist ein Kampf um das Dasein. Die Vögel freilich können schnell wandern, sie haben Flügel, welche sie in raschem Schwung weit über Berg und Thal, weit über das Meer tragen; aber der Igel, der Hamster, die Blindschleiche,

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