verschiedene: Die Gartenlaube (1866) | |
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„Die Frau,“ erzählte die Gefangene ruhig weiter, „die mich so abscheulich bestohlen hat, deren Namen ich nicht nennen mag, war etwa sechs Wochen von mir fort, da fühlte ich mich eines Tages plötzlich unwohl. Eine Veranlassung zu diesem Befinden war nicht vorhanden, denn ich lebe den einen Tag wie den andern, einfach und regelmäßig. Der Kopf, die Hände und die Füße waren mir mit einem Male eine Last geworden, namentlich die Füße, die ich kaum noch fortbringen konnte. Der Arzt, den ich rufen ließ, sagte mir, daß ich mich erkältet haben müsse. Mir wollte das nicht in den Kopf. Die verordneten Mittel hatten auch keine Wirkung, die Schwere oder die Ermattung nahm von Tag zu Tag zu. Ich fühlte ganz deutlich, wie jede Stunde einen Theil meiner Kräfte hinwegnahm, wie ich über sie in immer beschränkterem Maße verfügen konnte. Es war kein jähes Absterben, aber ein ruhiges, sich stets gleichbleibendes, unaufhaltsames Aufhören der Lebenskräfte. Der Geist blieb dabei gesund wie zuvor. Ich vermochte mit derselben Schärfe zu denken und zu urtheilen, ich erinnerte mich mit derselben Treue dessen, was ich vor Jahren erlebt und gelernt hatte, und lernte genau mit demselben Interesse und mit derselben Leichtigkeit das, was ich behalten wollte. Anfangs beruhigten mich die Versicherungen meines Arztes über die Ungefährlichkeit meines Zustandes. Als aber kein Mittel zur Besserung führte und ich nach einigen Wochen so weit gekommen war, daß ich nur noch gestützt mich aufrecht erhalten und kaum noch fortbewegen konnte, da lernte ich mich fürchten, nicht eigentlich vor dem Tode, sondern vor einem langen und qualvollen Krankenlager. Eine Freundin gab mir endlich ein Mittel an die Hand, das mich zur Erkenntniß meines Zustandes führen, die Ursache desselben mir bekannt machen sollte. Sie ertheilte mir den Rath, eine sogenannte kluge Frau um Rath zu fragen.
„Ach, bitte, bitte, unterbrechen Sie mich nicht,“ warf Fräulein v. K. ein, als ich Miene machte, hierauf etwas zu erwidern. „Ich berichte Ihnen nur Thatsachen und bin damit bald zu Ende. Nach einigem Widerstreben ließ ich mir die Frau zuführen. Ich übergehe den Hokuspokus, den die Frau mit mir vorzunehmen für gut fand, weil Sie dies doch nur lächerlich finden würden, und gebe daher nur das Resultat wieder.
‚Sie haben eine Feindin,‘ sagte die Frau, nachdem sie mit Aufmerksamkeit die vor mir ausgebreiteten Karten geprüft hatte. ‚Die Person steht tief unter Ihnen, aber sie sucht Ihnen Schaden zuzufügen. Herr Gott‘, schrie das Weib mit einer schrecklichen Stimme, ‚die Person will Ihren Tod! Das ist schändlich, das ist himmelschreiend! Ihre Krankheit, gnädiges Fräulein, ist durch diese Person erzeugt. Warten Sie, ich muß dahinter kommen. Ja, so ist es,‘ fuhr sie fort, nachdem sie einige Zeit mit verdoppelter Aufmerksamkeit die Karten übersehen hatte, ‚die Leiche hier sagt es mir deutlich. Sie müssen sterben, gnädiges Fräulein, wenn es Ihnen nicht gelingt, sich von dieser Leiche loszumachen. Da kann kein Doctor helfen, Sie selbst müssen sich Hülfe schaffen.‘ ‚Aber wie soll ich das thun?‘ fragte ich unwillkürlich. ‚Still, still,‘ erwiderte mir die Frau, ‚ich suche schon. Hier der Diebes-Junge und daneben der Galgen. Wie reimt sich das? Nun sehe ich klar,‘ begann die Frau nach einer kleinen Pause, in welcher sie mehrere Vergleichungen angestellt hatte. ‚Sie sind bestohlen worden. Der Dieb ist Ihre Feindin. Er will sich rächen, er will Ihr Leben, und um dies zu erreichen, hat er die gestohlenen Sachen zur Bekleidung der Leiche verwendet und dieser mit in das Grab gegeben. Das ist niederträchtig. Denn in demselben Verhältnisse, in welchem die Verwesung der so bekleideten Leiche unaufhaltsam vorwärts schreitet, vermindert sich auch Ihre Lebensfähigkeit, reifen Sie selbst für das Grab. Das ist Mord!‘ schrie das Weib mit einer so eigenthümlichen Gewalt, daß ich zusammenschreckte. Einige Minuten herrschte in dem Zimmer eine Grabesstille. Ich war unfähig, irgend etwas zu thun, während die Wahrsagerin regungslos vor dem Tische stand und die darauf ausgebreiteten Karten anstarrte.
Endlich sagte sie leise: ‚Sie müssen sich losreißen von der Todten, diese Bindung darf nicht länger fortdauern, sie muß sobald als möglich gelöst werden. Verschaffen Sie sich Ihr Eigenthum wieder, die Leiche darf davon nicht das Geringste behalten. In dem Augenblicke, in welchem auf diese Weise die sympathetische Gemeinschaft aufgehoben wird, werden Sie Ihre Gesundheit wieder erhalten, kein Haar wird Ihnen mehr wehe thun, Sie werden munter sein wie ein Fisch. Noch einen Fingerzeig will ich Ihnen geben. Es ist dies nöthig, damit Sie nicht vergeblich suchen und nicht fehlgreifen. Die Karten sagen, mir, daß die Leiche eine Blutsverwandte Ihrer Feindin ist.‘ Bei den letzten Worten raffte die Frau die Karten eiligst zusammen und schritt, ohne zu grüßen und ohne sich nach mir umzusehen, zur Thür hinaus.
Ich war allein, und zwar allein gelassen mit den wunderlichsten Gedanken, die es nur geben kann. Auf der einen Seite widersprach es meinen Grundsätzen, an derlei widernatürliche Dinge zu glauben, auf der andern Seite aber schien auf dem mir angedeuteten Wege das einzige Mittel zu meiner Rettung zu liegen; ich empfand Unwillen und sogar Abscheu vor dem Gebrauch dieses Mittels, und doch vermochte ich die Stimme nicht zum Schweigen zu bringen, die tief in meinem Innern mir unausgesetzt von Hoffnung redete. Es war ein Kampf, der mehrere Tage dauerte und meinen Zustand verschlimmerte. Die Hoffnung oder vielmehr die Liebe zum Leben trug endlich den Sieg davon. Ich hatte mir eingeredet, daß das Mittel untrüglich sei, und hielt mich daran fest, wie der Ertrinkende an den Strohhalm. Dem Entschlusse folgte die Ausführung auf dem Fuße. Der Todtengräber, den ich zu mir kommen ließ, bestätigte mir zunächst, daß genau zu derselben Zeit, in welche die Entstehung meines Krankseins fiel, eine Verwandte meiner Feindin beerdigt worden war; er bestätigte aber auch, daß mein Leben gefährdet sei, wenn die Leiche Sachen, die ich getragen, mit in das Grab erhalten habe. Meine Bitten um Oeffnung des Grabes lehnte er lange Zeit mit Entschiedenheit ab, und erst, als ich eine ansehnliche Summe Geld als Entschädigung bot, sagte er zu.
Damals dachte ich nicht entfernt daran, daß ich etwas Unerlaubtes und Strafbares forderte, daß ein Dritter die mir gehörigen Sachen nicht aufzufinden im Stande war und daß ich daher selbst mich bei der Handlung betheiligen müsse, weil das Verbleiben auch nur eines Gegenstandes die geheimnißvolle Verbindung ja nicht auflösen sollte. Allein ich schreckte vor meinem Vorhaben auch nicht zurück, als ich bei einer späteren Unterredung mit dem Todtengräber von der Nothwendigkeit meiner Gegenwart und möglicherweise auch meines Thätigseins bei der Ausführung des Unternehmens überzeugt und als ich gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht wurde, daß das Oeffnen des Grabes und die Wegnahme der Sachen heimlich, das heißt zur Nachtzeit, bewirkt werden müsse, weil kein Mensch davon Kenntniß erhalten dürfe. Ich suchte nur Hülfe, nur Rettung, denn mein Zustand hatte sich inzwischen so verschlechtert, daß ich nicht mehr gehen, nicht einmal mehr stehen und auch die Hände nicht mehr gebrauchen konnte. In diesen Tagen lernte ich die Todesangst kennen.
An dem verabredeten Abend ließ ich mich erst in die Wohnung des Todtengräbers und von da nach dem Friedhofe tragen. Es war eine wundervolle Nacht, kalt zwar, aber ruhig und fast tageshell, der Himmel wolkenleer und mit Millionen Sternen besät. Die tiefe Stille auf dem Friedhofe hatte für mich nichts Schauerliches, das bereits geöffnete Grab nichts Abschreckendes, meine volle Aufmerksamkeit richtete sich auf den Sarg, der noch geschlossen war und dessen Oeffnung ich mit einer Spannung entgegensah, welche meine gesammten geistigen Kräfte in Anspruch nahm. Ich war keines Wortes, keines Gedankens mächtig, regungslos saß ich am Rande des Grabes und starrte auf den Sarg hernieder.
Nach vielfachen vergeblichen Anstrengungen des Todtengräbers fiel endlich der festgenagelte Deckel polternd zur Seite herab, die Leiche lag bloß vor meinen Augen. Ein jäher Schreck durchzuckte jedes meiner Glieder. Dies Gefühl war aber so schnell vorübergehend, daß es kaum eine Secunde ausfüllte. Und doch übte dasselbe auf mich eine außerordentliche, eine wunderbare Wirkung. Vergessen Sie nicht, Herr Inspector, daß ich bis zu diesem Augenblicke weder Hände noch Füße gebrauchen konnte. Der Anblick der Leiche riß mich mit gewaltiger Kraft von meinem Sitze in die Höhe; ich trat näher an den Rand des Grabes heran, ich beugte mich sogar in dasselbe hinab, um genauer sehen zu können, bezeichnete dem Todtengräber jeden einzelnen Gegenstand, der früher mir gehört hatte und den dieser der Leiche wegnehmen mußte, und nahm diese Sachen, so wie sie mir gereicht wurden, fest in meine Hände und in meine Arme. Ich war im Stande, mich in dieser unbequemen Stellung zu erhalten, mich ohne Hülfe aufzurichten, aufrecht zu stehen und fortzubewegen; ich war im Stande, die Hände zu gebrauchen, nicht nur damit festzuhalten, sondern
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_498.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)