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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

No. 42.

1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


In der Propstei.
Von. J. D. H. Temme.
(Fortsetzung und Schluß.)
4. Der Polizeirath.

Im Cassenzimmer des Regierungsgebäudes schlug die Uhr Sechs und zeigte damit das Ende der Bureaustunden für den heutigen Tag an. Die Beamten schickten sich an das Bureau zu verlassen. Die beiden Cassenschreiber erhoben sich zuerst, spritzten die Federn aus, streiften die Schreibärmel ab, nahmen ihre Hüte, wünschten dem Herrn Landrentmeister gehorsamst eine wohlschlafende Nacht und gingen. Auch der erste Cassendiener verließ das Bureau. Der zweite mußte bleiben, bis der Landrentmeister selbst ging, um hinter diesem abzuschließen und ihm die Schlüssel zu übergeben. Aber der Landrentmeister sagte zu ihm:

„Schmidt, Er kann gehen. Ich habe noch eine Arbeit vor, die mich eine Viertelstunde aufhält. Ich werde selbst abschließen.“

Auch Schmidt ging.

Der Landrentmeister arbeitete ruhig weiter; er konnte es, wie aufgeregt er sein mochte. Er arbeitete länger, als eine Viertelstunde. Dann kam der Polizeirath Schwarz, wie er versprochen hatte.

„Löscht Euer Licht da aus, Aders.“

„Warum?“ fragte er.

„Diebe stehlen nur im Dunkeln.“

„Wollen wir stehlen, Freund Schwarz?“

„Einen Dieb fangen, Freund Aders. Kommt mit in das Cassengewölbe.“

Der Landrentmeister löschte das Licht aus und dann gingen Beide in das Gewölbe, dessen Thür Aders auf den Wunsch des Polizeiraths anlehnte.

„Jetzt öffnet den Schrank, der in der vorigen Nacht bestohlen war,“ sprach Schwarz.

Der Landrentmeister schloß den Schrank auf.

„Lehnt die Thür wieder an.“

Der Andere that auch das.

„Und nun setzen wir uns. Ihr habt doch ein paar Stühle hier? Man sieht in der Finsterniß nicht die Hand vor den Augen.“

Der Landrentmeister brachte die beiden Stühle herbei. Sie ließen sich darauf nieder, nahe an dem aufgeschlossenen Schrank.

„Und nun, Freund Schwarz, was ist Euer Plan?“ fragte der Landrentmeister.

„Hier zu warten.“

„Wie lange?“

„Wenn es sein muß, bis Euere Bureaustunden wieder anfangen.“

„Und auf wen sollen wir denn vielleicht die ganze Nacht warten?“

„Auf den Cassendieb.“

„Und wer ist es? An wen denkt Ihr?“

„Vorläufig an alle Welt.“

„Habt Ihr seit heute Nachmittag nichts erfahren?“

„Gar nichts.“

Der Landrentmeister machte eine kleine Pause mit seinen Fragen. Dann fuhr er doch wieder fort:

„Wie denkt Ihr es Euch, daß der Dieb hier hereinkommen werde?“

„Doch wohl durch irgend eine Oeffnung.“

„Und wo könnte diese sein?“

„Wahrscheinlich in diesem Schranke.“

„Und wo da?“

„In der Mauer.“

„In der starken, festen Mauer?“

„Wir sind hier gleichsam unter der Erde, Freund Aders.“

„Wenigstens unter dem Boden der Erde.“

„Ihr nehmt die Sache wie ein Schulmeister. Indeß, unter der Erde giebt es Vielerlei, unter Anderem auch unterirdische Gänge. Ihr habt doch davon gehört? Wenn nun ein solcher unterirdischer Gang gerade in dieses Gewölbe und in diesen Schrank führte?“

„Wißt Ihr etwas davon, Schwarz?“

„Ich vermuthe. Ich habe freilich auch dunkle Erinnerungen von dunklen Sagen.“

„Und woher sollte der Gang kommen? Wo sollte er beginnen?“

„Still! Hörtet Ihr da kein Geräusch?“

„Ich hörte nichts. Aber Ihr?“

„Es war mir, als krabble da etwas, an der andern Seite der Mauer. Aber meine Phantasie war wohl zu lebhaft.“

Der Landrentmeister kam auf seine frühere Frage zurück.

„Wo sollte der unterirdische Gang ausmünden?“

„Nach meiner Berechnung in der Propstei.“

Der Landrentmeister flog von seinem Stuhle auf.

„Gerechter Gott, da wohnt ja der Herr Regierungspräsident!“

„Ja, die Propstei ist seine Amtswohnung.“

„Und an ihn dachtet Ihr?“

„Hattet Ihr an einen Andern gedacht?“

„Nein! Aber mein eigener Vorgesetzter! Ein so hoher Beamter!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 649. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_649.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)