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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

der Weg, wie schon erwähnt, lange vernachlässigt und, seit ihn einmal ein Wolkenbruch fast zerstört, nicht wieder ausgebessert worden, so daß die Romantik der alten Zeit (wenn man sich wirklich zu ihr hinaufarbeiten wollte) schon hier unten am Hügel begann und sich steigerte, je höher man daran emporklomm. Rosel kannte ihn aber trotzdem, denn oft schon hatte sie, besonders mit ihrer seligen Mutter, den Weg gemacht; der armen Frau war damals wohl recht weh um’s Herz gewesen, an dem so vieler Gram und so viele Sorge nagten, und Stunden lang hatte sie dann oben auf dem Hügel gesessen und auf das freundliche Bild zu ihren Füßen hinausgeschaut, ohne selbst freundlich davon berührt zu werden. Nur still vor sich hin geweint hatte sie dort, und Rosel, den Kopf an ihre Schulter gelehnt, neben ihr gesessen und ihren Arm um sie geschlungen.

Der Gedanke an die verlorene Mutter füllte jetzt allein ihre Brust. Sie achtete kaum auf die Beschwerden des Wegs, und immer wieder dachte sie der lieben Dulderin, die so gut, so unendlich gut mit ihr gewesen und die sie doch so früh hatte in ihr Grab legen müssen. Und wie war Alles seitdem anders in ihrem Haus geworden; besser wohl als früher, denn Noth und Sorge kannte sie nicht mehr, auch trank der Vater nicht mehr, was der armen Mutter so manche bittere Thräne gekostet. Er war freundlicher als früher, thätiger in seinem Geschäft; die aber gerade, deren tägliches Gebet das immer gewesen, hatte es nicht erleben dürfen, und nie, nie wieder sollte sie in die treuen guten Augen schauen und ihr Haupt an das Herz legen können, das für sie so warm geschlagen.

Sie fühlte bei den Erinnerungen den rauhen felsigen Boden nicht, über den sie klomm, und hatte die Felsentreppe auf der Höhe erreicht, ehe sie es selber dachte. Jetzt aber verlangte der Augenblick wieder vollständig sein Recht, denn hoch über ihr ragten die dunklen unheimlichen Mauern empor, und wenige Minuten später sollte sie den Platz betreten, von welchen in den Köpfen der Menschen dort unten so viele schreckliche Geschichten spukten.

Bah, was war es denn? ein alter verlassener Steinhaufen, weiter nichts. Die Menschen, die ihn früher belebten, gute oder böse, schlummerten lange den ewigen Schlaf, und Gott würde ihnen wahrlich nicht gestatten, wenn sie schon zu Lebzeiten die Welt geärgert, auch noch nach dem Tode, noch nach Jahrhunderten, herumzugehen und Schrecken und Entsetzen zu verbreiten.

Rüstig erklomm sie die ersten Stufen, allein plötzlich hielt sie horchend inne. Unten im Thal, in Wellheim, von wo der frische Ostwind gerade herüberstrich, schlug die alte Stadtuhr. Deutlich konnte sie den Ton der Glocke hören und zählte die Schläge: acht, neun, zehn, elf, zwölf. Es war gerade Mitternacht und sie lächelte trotzig vor sich hin, als sie an die verrufene und gefürchtete Geisterstunde dachte. Kaum aber hob sie den Fuß, um die letzte Höhe zu erklimmen, als sie wieder, und diesmal erschreckt, aufhorchte, denn ihr war es plötzlich, als ob sie unter sich eine menschliche Stimme gehört hätte.

Waren ihr etwa einzelne Gäste aus ihres Vaters Hause gefolgt? Nein. Deutlich erinnerte sie sich von der letzten Höhe einen Blick hinab auf die vom Mond hellbeschienene Straße geworfen zu haben, wo sie jeden dunklen Gegenstand sofort hätte erkennen müssen, aber nichts regte sich dort, und so rasch wie sie den Gang erklommen, würde Niemand im Stande gewesen sein, ihr zu folgen. Todtenstille lag auf der Welt; ihr Ohr mußte sie getäuscht haben, und mit der Ueberzeugung klomm sie rasch die wenigen Stufen noch empor, die sie von der Kuppe trennten.

Und da stand die alte Raubburg unmittelbar vor ihr, mit ihren zackigen ausgebrochenen Mauern, dem alten Thurmrest, in welchem das entsetzliche Verließ seine Opfer hielt, mit den epheuumrankten Söllern und den hohlen Fensteraugen, und dort auf der breiten Zinne, auf die jetzt noch das helle Mondlicht fiel, sollte der Volkssage nach jener blut- und beutegierige Raubgraf seine Strafe abwandern und seinen Kopf, dort drüben über den Rhein hinüber, der anderen Veste entgegenhalten.

Rosel blieb einen Moment stehen, theils um Athem zu schöpfen, die hohen Stufen waren ihr sauer geworden, theils um sich erst wieder zu orientiren, denn es kam ihr ordentlich sonderbar vor, wie fremdartig der sonst so bekannte Platz bei dem ungewissen Licht des Mondes aussah. Aber dort drüben befand sich ja gleich der Eingang in den Hof, da das eigentliche Hauptthor durch niedergestürztes Mauerwerk unpassirbar geworden, und in dem Hofe selber stand jener alte, riesige, steinerne Tisch, auf einem einzigen, ziemlich roh behauenen Pfeiler ruhte die runde Platte, wo früher wahrscheinlich Hugo von Wildenfels im Sommer freie und offene Tafel hielt und zechte und bankettirte, während unten im Thurm seine Opfer wimmernd verschmachteten.

„Recht wär’s ihm schon, wenn er umgehen müßte bis zum jüngsten Tage,“ murmelte Rosel vor sich hin, indem sie jetzt rasch der kleinen Pforte zuschritt, „verdient hätt’ er’s tausendfach, wenn nur die Hälfte von dem wahr wäre, was man sich erzählt, aber mir dürft’ er doch nichts thun, so viel ist sicher,“ setzte sie, ein frommes Kreuz schlagend, hinzu, „das litte der liebe Gott nicht.“

Sie hatte die kleine Eingangspforte erreicht, blieb aber doch, so muthig sie auch immer sein mochte, einen Moment auf der Schwelle stehen und blickte scheu in den inneren, öden Raum, auf dem schon die Mondesdämmerung lag, da die Mauern das Licht der schräg fallenden Strahlen abhielten. Aber er war vollkommen leer, kein Hauch regte sich darin, und Rosel, fast selber nur wie ein Schatten, schritt rasch und geräuschlos auf den deutlich erkennbaren Tisch zu, um den herum, durch hineingewehten Samen vielleicht, einige junge Buchenschößlinge Wurzel geschlagen hatten und im Sommer lustig Blätter trieben. Sogar unter dem Tisch hatte sich ein einzelner solcher Trieb herausgearbeitet, und diesen wollte sie nehmen, denn dadurch konnte sie am bestimmtesten den Platz bezeichnen, so daß kein Zweifel möglich blieb.

Rosel trug das Messer, das sie aus der Küche mitgenommen, noch in ihre Schürze gewickelt, und niederkauernd kroch sie unter die Platte, um das zähe Holz leichter abschneiden zu können, als es ihr plötzlich mit einem jähen Schreck in’s Herz stach, denn in dem öden Raum sprach plötzlich eine Menschenstimme und deutlich hörte sie die Worte:

„Er wird nicht mehr hier sein, wir haben ihn zu lange warten lassen.“

Im ersten Moment war es, als ob das sonst so beherzte Mädchen in sich zusammenbrechen wolle, und nur mit Mühe unterdrückte sie einen lauten Angstschrei, der sie dann jedenfalls verrathen hätte. Fast krampfhaft klammerte sie sich an die Säule des Tisches an, der seinen Schatten schützend über sie breitete, und suchte vor allen Dingen die zu erkennen, die hier ihr nächtliches Wesen trieben und keinesfalls eine Ahnung haben konnten, daß sie belauscht wurden. Aber sie sollte nicht lange im Zweifel bleiben. Zwar war sie noch nicht im Stande, die Gestalten deutlich zu unterscheiden, nur daß es zwei Männer waren, die durch dieselbe Pforte den innern Raum betraten, sah sie; da sagte plötzlich eine andere, dritte Stimme, die ihr das Blut stocken machte, denn es war die ihres eigenen Vaters:

„Na, zum Henker auch, wo habt Ihr Beiden Euch denn heut’ Nacht herum getrieben, daß Ihr nicht zur bestimmten Zeit hier sein konntet? Seit neun Uhr hocke ich nun schon hier oben in dem öden Nest, den Fledermäusen und Eulen zur Gesellschaft.“

„Wir konnten nicht früher kommen, Vater,“ erwiderte der Eine der Neugekommenen, ihr eigener Bruder, „gerad’ heute war rein der Teufel in Hellenhof los, und wir hätten jedenfalls Verdacht erregt, wenn wir früher den Platz verließen. Die Stadt schwärmte ordentlich von Menschen und Feuerwerk wurde überall losgebrannt, so daß wir gar keine Straße frei behielten. Ich hab’s mir gedacht, daß Dir die Zeit lang geworden.“

„Wirklich?“ knurrte der Vater wieder, „aber so macht wenigstens, daß Ihr jetzt herunter kommt. Was steht Ihr noch da oben?“

„Ich wollte erst ein Licht anzünden.“

„Ich habe Licht unten. Glaubt Ihr, daß ich die ganze Zeit im Finstern gesessen bin?“

Die beiden Gestalten schritten jetzt der nächsten Wand zu, in welcher sie zu verschwinden schienen; als sie aber die eine Stelle überschritten, auf die durch eine Mauerlücke das Mondenlicht fiel, erkannte Rosel deutlich den jungen Fremden, ihres Bruders Compagnon, für den Franz so oft um Rosel’s Hand angehalten. Was hatten die drei Menschen hier bei Nacht in der alten Ruine so Heimliches zu verrichten, daß sich Franz dazu von Hellenhof fortstehlen mußte? Weshalb scheuten sie das Tageslicht und das Auge der Menschen?

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 715. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_715.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)