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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Geschichte vorträgt, zumeist die neuere und neueste, allein auch die alte fehlt nicht durchaus, und vorzügliche Theilnahme schenkt er dem Mittelalter, dessen tiefe und warme Auffassung, wie die Einleitungen in allen seinen Büchern bekunden, ihn besonders auszeichnet. Dem Mittelalter, und zwar dem deutschen, hat er denn auch die historischen Uebungen bestimmt, die er seit Ostern 1833 leitet. Hier haben sich die Waitz, Sybel, Giesebrecht, Köpke, Dönniges, Wilmans, Hirsch, Jaffé, O. Abel und Wattenbach gebildet; von hier gingen die Jahrbücher des deutschen Reichs unter dem sächsischen Hause aus, in denen zum ersten Male das echte Metall der Monumenta Germaniae ausgemünzt und auf den Markt geworfen ward. Wenn jetzt dies Unternehmen von der Münchener historischen Commission in größerem Umfange weitergeführt wird, so übt auch da Ranke den vorwaltenden Einfluß aus, der ihm gebührt. Dort sieht er denn auch andere Wünsche der Erfüllung zureifen, die er einmal ausgesprochen: man sammelt endlich die Acten unserer Reichstage, man schreibt die Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Nach solchen Vorbereitungen wird es dereinst möglich sein, eine alle Epochen umfassende, wahrheitsgetreue, gründlich erforschte und den Leser fesselnde Geschichte unseres Volkes zu schreiben, eine Aufgabe, die selbst Ranke heute noch nicht lösen zu können meinte.

Wie muß es ihn erfreuen, nun seine Schüler, ja seiner Schüler Schüler, die Enkel, möchte man sagen, seines Geistes, in emsiger Arbeit dazu begriffen zu sehen! Er selbst aber legt mit nichten die Hände in den Schooß: noch im Sommer 1865 ging er, ein Siebenziger, über den Canal, über die irische See, um für die britische Geschichte in den Archiven zu studiren; noch jetzt verbringt er seinen Tag inmitten seiner Bücher, forschend und schreibend. Ein kleiner Mann, unansehnlicher Gestalt – zu scheinen hat er nie verstanden – aber unter der mächtigen Stirn leuchten die blauen Augen in lebendiger Klarheit. Er trägt frei vor, in den Stuhl zurückgelehnt und doch immer in Bewegung; bald schnell die Worte hervorstoßend, lebhaft, wie der Gedanke in ihm entspringt, bald wieder sinnend, zweifelnd, zaudernd, um bedächtig und sorgsam das Urtheil zu wägen, den Ausdruck abzumessen. Möge er noch lange bleiben, wie er ist, fröhlich, kräftig, rührig, und weiter wirken und schaffen, sich selber zur Freude, dem deutschen Namen zur Zierde, dem jüngeren Geschlechte zur Nacheiferung![1]




Strafpredigt gegen rücksichtslose Leute.
2. Für Die im Theater und Concert.


Was Du nicht willst, daß man Dir thu’,
Das füg’ auch keinem Andern zu.


Wer Theater und Concerte besucht, von dem sollte man doch glauben, daß er einige Bildung und also auch Kenntniß von den Rücksichten hätte, die man in Kunsttempeln seinem Nächsten schuldig ist. Allein dies ist ein falscher Glaube, da gar nicht wenige von den echten und unechten Kunstprotzen Anderen den Kunstgenuß in ganz rücksichtsloser Weise stören. Sie selbst, die Störenfriede männlichen und weiblichen Geschlechts, gerathen aber gewöhnlich außer sich, wenn sie durch irgendwelche Allotria aus ihrem wirklichen oder erheuchelten Kunsttaumel (nicht selten nur ein Dusel aus Langeweile) erweckt werden.

Was den erheuchelten Kunstgenuß, sowie das angebliche Verständniß für Kunst betrifft, so machen sich diese heutzutage in einer so widerwärtigen Weise breit, daß Jedem, der sich der Kunst mit einigem Interesse zugewendet hat, Concerte und Theater geradezu verleidet werden. Leute, für deren unmusikalische Ohren eine Polka ein weit größerer Schmauß ist, als eine Mozart’sche Ouvertüre oder eine Beethoven’sche Symphonie, sieht man nach beendigter Aufführung solcher classischer Musikstücke vor scheinbarem Vergnügen außer sich gerathen und sich die Hände wund klatschen, obschon sie während der Aufführung das Gähnen und Einschlafen nur mit Mühe bewältigten. – Wenn in der Oper tremulirende Sängerinnen oder Sänger auch noch so gaumig und unrein singen, brüllen aber zeitweilig hohe Töne heraus oder machen recht lange meckerige oder sogenannte Bockstriller, so nimmt der Beifall kein Ende und jenen eingebildeten und meist ziemlich anspruchsvollen Künstlern, denen man eigentlich Marken zu Gesangsstunden zuschicken sollte, spendet man wohl gar noch Blumen, Lorbeerkränze und Gedichte. – Ein Heldenspieler, wenn er in seinem gezierten Komödiantenpathos auch noch so unverständig declamirt, aber in seiner Rolle stark aufträgt und dabei sein Aeußeres in schönes Licht zu setzen weiß, wird dadurch für das dumme Publicum ein stets gern gesehener und beklatschter Liebling, während er die Verständigen zur Verzweiflung bringt. – So werden die Künstler durch das Publicum selbst für Selbsterkenntniß und das Streben nach Vervollkommnung immer unzugänglicher gemacht.

Mit dem zu späten Kommen, vorzugsweise der becrinolinten, weit vom Eingange beplatzten Damen, beginnen in der Regel die Rücksichtslosigkeiten und endigen nicht selten erst mit dem zu zeitigen Fortgehen, wodurch den Umsitzenden das Finale oft recht gründlich verdorben wird, und warum? Nur damit der voreilig Aufständische in der Garderobe recht schnell zu seinen Ueberkleidern und in seine Batarde gelangt. – Diese Art zu kommen und zu gehen ist aber eine um so größere Unart, je geräuschvoller sie geschieht und je entfernter von der Thür der Kunstgenußstörer seinen Platz hat, je mehr Kniee und Beine (mit ihren Frostballen und Hühneraugen) also dabei gedrückt, gestoßen und getreten werden. – Und wer sind denn nun Die, welche so oft zu spät kommen? Trödelmätze und Eitelinge sind’s, die mit Frisiren, Schleifebinden, Einschnüren, Handschuhanziehen, Schwatzen u. s. f. nicht fertig werden können. – Wer wirklich, in Folge eines unabänderlichen Umstandes, erst nach Anfang einer Production zu kommen gezwungen ist, der merke sich wenigstens: daß er die Thür so geräuschlos als nur möglich zu öffnen und zu schließen, daß er (zumal wenn seine Stiefeln knarren und hohe Absätze haben) recht sanft aufzutreten, daß er eine Pause oder ein Forte zum Platz nehmen abzuwarten und die Sitzklappe hübsch leise niederzulegen, daß er seinen Platz stillschweigend und nicht nach rechts und links laut grüßend oder gratulirend einzunehmen verpflichtet ist. Und werden denn diese Rücksichten, die doch jeder gebildete Mensch nehmen sollte, auch wirklich immer genommen? Mit nichten. Auch während der spannendsten Momente eines Stückes drängen sich die meisten der Spätkommer zwischen Stehenden und Sitzenden hindurch, ganz laut ihren Platz fordernd, nicht etwa leise um Entschuldigung bittend.

Beim Erwähnen des Zuspätkommens kann Verfasser nicht umhin, eine kleine Abschweifung aus dem Concert- in den Speisesaal zu machen, weil hier einzelne zum Diner oder Souper Eingeladene durch ihr gar zu spätes Eintreffen ihren pünktlichen Mitessern großes Magenleid verursachen können. Man beobachte nur einmal eine zum Abendessen um acht Uhr eingeladene Herrengesellschaft, in welcher um neun Uhr noch der Vierzehnte fehlt und die Mägen vor Leerheit knurren. Wie fängt da die Unterhaltung an immer gezwungener und matter zu werden; wie auffallend wird da nach der Uhr und wie sehnsüchtig nach der Thür gesehen, durch die aber anstatt des Erwarteten immer und immer wieder entweder der unruhig gewordene Hausherr oder das theeservirende Wesen mit dem unerwünschten heißen Naß hereintritt; wie explodiren da zeitweilig ganz unchristliche Verwünschungen zwischen trockenen Lippen, und welche Angst steht man nicht wegen der vorsorglichen Hausfrau und wegen der nicht unmöglichen Verderbniß des Essens aus! Um nun allen solchen schlimmen Folgen dieses Zuspätkommens zu begegnen, möchte Verf. den Rath geben, daß man doch auf der Einladungskarte „die Zeit des Zutischegehens“ oder, um uns allmählich mehr an die allgemeine Wehrpflicht zu gewöhnen, die Zeit, „wo zum Essen angetreten wird“, bestimme. Wer dann zur angegebenen Tischzeit nicht vorhanden ist, der mag nachexerciren. – Und die Moral? Wo sich Menschen zu einer bestimmten Zeit zum Genießen vereinigen

  1. Wie wir erfahren, wird am Tage von Ranke’s Jubiläum im Verlage von Duncker und Humblot in Leipzig der erste Band einer Gesammtausgabe seiner Werte erscheinen. Dieselben werden etwa sechsunddreißig Bände umfassen, von denen vier bis sechs im Jahre zur Ausgabe gelangen sollen.
    D. Red.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_103.jpg&oldid=- (Version vom 3.3.2017)