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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

und Verwaltung zusammenliefen. Denn die Nachricht, mit welcher der Baron seine Umgebung in Dernot überrascht hatte – selbst der Justizrath erfuhr erst hier davon –, bestätigte sich: Treuenstein hatte sich, wie man erfuhr, nach langen Verhandlungen dazu verstanden, das Ministerportefeuille wieder zu übernehmen.

Wo man von dem Unfall des Herrn erfahren hatte – und dies war, ohne daß sich das Wie hätte angeben lassen, hier und da geschehen –, nahm man seinen Wiedereintritt bald mit Kopfschütteln, bald mit Schadenfreude und überall mit Spannung auf, da man schließen zu dürfen meinte, daß sich in seinem Auftreten und seiner Thätigkeit nothwendig irgend welche Folgen der Krankheit offenbaren müßten. Darin hatte man sich indessen gründlich getäuscht. Man fand den Minister auf seinem Posten genau in derselben Verfassung wieder, in der man ihn von seiner Stelle vor sechszehn Jahren hatte zurücktreten sehen. Geistesfrische und Klarheit, Ueberblick und Arbeitskraft verriethen nirgends ein Nachlassen, und was seine Auffassung und Behandlung der öffentlichen Zustände betraf, mußte man zugestehen, daß seine – sagen wir einmal: Energie, noch gewachsen war; er hielt die Zügel und führte sie mit eiserner Hand und trat jeder freieren Regung im Ländchen mit jener unerbittlichen Härte entgegen, welche die letzte Zeit vor seinem Zurücktritt gekennzeichnet hatte. Jetzt hatte er obendrein den Fürsten, der damals sein Widersacher, völlig auf seiner Seite. Ja man wußte, daß der Herzog grade um dieser Entschiedenheit und Kraft willen den alten Diener unter jeder Bedingung hatte wieder gewinnen wollen. Das bisher herrschende nachgiebige und nachsichtige, hin und herschwankende System schien ihm ungenügend, wo nicht gefährlich, in einer Zeit der Erschütterungen, wie man sie überall fürchten zu müssen glaubte.

In seinem Hause und den Seinen gegenüber zeigte der Minister bei weitem weniger Strenge und Entschiedenheit, wenn auch selbstverständlich die gleichmäßige gute und heitere Laune des auf jenem anmuthigen Landsitz in behaglicher Freiheit hinlebenden Privatmannes vor den drängenden und zum mindesten ernsten Geschäften des Staatsmannes nicht immer zu der alten freundlichen Herrschaft gelangen konnte. Der Baron konnte seinem Familienkreise und dem Ausruhen in demselben nicht mehr so viel Zeit widmen wie bisher, und die kleinen Interessen aller oder einzelner, an denen er früher gutmüthig und freundlich Theil genommen, waren nunmehr kaum noch für ihn vorhanden. Ja, dies schien selbst von dem gelten zu sollen, was zuletzt diese Menschen und ihren Frieden so tief erschüttert und ihre liebevolle Verbindung unheilbar zu zerreißen gedroht hatte.

Was den Vater seiner eigenmächtigen Tochter und ihren Begleitern nachgezogen und was er an ihr und in dem einsamen alten Schloß zu erleben gehabt, war von ihm niemals wieder, auch nur mit der leisesten Hindeutung erwähnt worden. Selbst gleich anfangs, da er aus seiner Betäubung zu sich kam und noch ein paar Tage auf dem Schauplatz der Begebenheiten verweilen mußte, war dies nicht geschehen, und nachdem er bei seiner Rückkehr in die Residenz den betreffenden Exclamationen der Tante Kunigunde auf das Rauhste ein Ende gemacht, blieb seine Lippe streng und kalt geschlossen. Kein Wort des Tadels – aber freilich auch keines einer eigentlichen und wirklichen Vergebung wurde laut, nichts von besonderer Strenge, von einer Beschränkung der Freiheit Esperancens wurde sichtbar. Joseph ward mit dem alten Wohlwollen zur Fortsetzung seiner Studien auf die Universität entlassen; die jungen Mädchen setzten ihre Lebensweise nur mit den durch den Aufenthalt in der Residenz gebotenen Abänderungen unbehindert fort und fanden den Vater und Oheim in den, wie gesagt, freilich seltenen Ausruhestunden kaum weniger zugänglich, freundlich und zutraulich als sonst. Und wie ernst sein Wille, daß das Geschehene abgethan bleiben sollte, offenbarte sich am deutlichsten und drückendsten an dem unverbrüchlichen Schweigen, das er über seinen Sohn und die Begegnung mit ihm beobachtete. Selbst in Dernot hatte er seiner und seines Verbleibens nicht mehr gedacht.

Wir sagten schon, daß mit diesem Verstummen und Gehenlassen nirgends eine auch noch so leise Andeutung des wirklichen Vergebens und Vergessens verbunden gewesen – die Leser erinnern sich, daß der Baron sich niemals zu dergleichen verstanden hatte. Und daß es noch weniger als ein Zeichen der Gleichgültigkeit oder Verachtung aufzufassen war, offenbarte sich zuweilen in einer Weise, welche die nächste Umgebung des Ministers auf das Tödtlichste erschreckte und zugleich bewies, daß der Unfall, welcher in Dernot ihn niedergeworfen hatte, leider nicht vollständig überwunden worden war.

Als er, von Dernot aufbrechend, noch ein wenig angegriffen neben dem Kammerherrn im Wagen saß und sich die vorsichtige Unterhaltung des Begleiters, wie es schien, gern gefallen ließ, hatte er sich plötzlich aus seiner Ecke aufgerichtet und war mit einem Ton, wie noch niemand ihn so klagend von ihm vernommen, und mit aufdringenden Thränen in die Worte ausgebrochen: „Giebt es einen bejammernswertheren Menschen als mich, Brose? Finde ich meinen Sohn, meinen Prachtjungen, dessen Tod man mir vorgelogen, nun nur am Leben, um ihn mir durch diesen Unmenschen von neuem abgelogen und ihn selbst mich verleugnen zu sehen, ihn nicht an mein Herz ziehen zu sollen, ihn nicht anerkennen zu dürfen!“ – Und da Brose ganz verwirrt meinte: „Aber, alter Freund, der Leopold –“ unterbrach ihn Treuenstein mit jähem Zorn: „Wer redet von dem – Bastard? Von Franz sprech’ ich, von meinem Sohn, meiner Liebe, meinem Stolz – von Anna’s Kinde, den der Unmensch, der Augustin –“ und indem seine Stimme zum Murmeln herabsank, deckte er die Hand über die Augen und lehnte sich, wie vom Schmerz übermannt, verstummend in die Ecke zurück.

Der Kammerherr war über diese seltsame Phantasie des sonst so klaren Freundes derartig erschrocken, daß er wirklich einige Zeit brauchte, bevor er sich gefaßt hatte und eine Antwort versuchen konnte. „Aber, lieber alter Freund,“ sagte er zagend, „wie um Gottes willen kommt Ihr auf solche Gedanken? Seht doch den jungen Menschen nur an – jener, Euer Sohn, müßte ja mindestens zwei-, dreiundvierzig Jahre zählen, und dieser da ist bestimmt nicht über fünf- oder sechsundzwanzig!“

Der Baron ließ die Hand von den Augen sinken und sah seinen Nachbar, anfangs wie betäubt, bald jedoch mit hellerem und klarerem Ausdruck an. „Glaubt Ihr das wirklich, Brose?“ fragte er noch stockend.

„Ei, mein Himmel, darüber kann gar kein Zweifel sein, Treuenstein!“ rief der Kammerherr mit einem Versuch zu lachen. „Dies ist ja eine ganz unbegreifliche –“

„Sagt’s nur: Thorheit – freilich Thorheit!“ fiel der Baron, die Brauen zusammenziehend, ein. „Euer Einwand ist schlagend. Weiß der Teufel, wie mir der verrückte Einfall gekommen,“ fügte er finster hinzu und legte die Hand an die Stirn. „Es muß hier nicht richtig sein – wie käm’ es mir sonst? Reinen Mund, Brose!“

Der Anfall war damit freilich vorüber gewesen und Brose schwieg wirklich; nur gegen den langjährigen Kammerdiener des Barons äußerte er sich, denn es schien ihm nothwendig zu sein, daß zum mindesten ein Vertrauter von diesem Zustande wisse und auf seine mögliche Rückkehr gerüstet sei. Er hatte leider Gelegenheit, den Diener selbst in die Behandlung einzuführen, da der Baron in den Tagen, welche der Kammerherr noch bei den Freunden in der Residenz verweilen konnte, der gleichen Phantasie unterlag, diesmal Nachts beim Auskleiden, und bei weitem nicht so schnell durch Brose’s und des Dieners Zureden beruhigt. Und auch seitdem trat dieser Zustand von Zeit zu Zeit ein – blitzgleich, ohne die leisesten Vorzeichen, welche die Umgebung des Ministers hätten aufmerksam machen und sich auf das Kommende rüsten lassen können, meistens freilich Nachts, nach einem besonders anstrengendem Tage, nach Aerger und Aufregung, ein paar Mal aber auch Abends im Familienkreise – wer stand dafür, daß er nicht einmal auch zu noch unglücklicheren Stunden und in fremder Umgebung hervorbrach?

Man durfte vor einer solchen Möglichkeit wohl zittern. Den herzzerreißenden Klagen über den ihm entzogenen Sohn schlossen sich zuweilen die wüthendsten Zornausbrüche gegen den Müller an und ein paarmal wurden Anklagen gegen Treuenstein’s Vater und seine erste Gemahlin laut, die, wenn auch plötzlich wieder mißtrauisch oder mit einem Rest von Besinnung abgebrochen und seiner Umgebung kaum verständlich, doch genug offenbarten, um einem Fremden die bedenklichsten Einblicke in das Familienleben des Ministers zu eröffnen. Am betrübendsten aber war, daß selbst vom Arzt keine rechte Hülfe zu hoffen war: wie hätte man diesen bei den jähen Anfällen nur so schnell zur Stelle schaffen sollen? Hinterdrein aber, wenn der Baron aus dem tiefen Schlaf, der dem Ausbruch zu folgen pflegte, völlig frisch und frei

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_259.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)