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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

in seinen geliebten Garten gefahren werden – das nannte er vorübergehende Schwäche, die ihn durchaus nicht hinderte, großartige Bau- und Reisepläne zu entwerfen.

Eines Nachmittags trat Doctor Böhm in Hellwig’s Zimmer. Der Kranke saß an seinem Schreibtisch und schrieb emsig; verschiedene Kissen, die man hinter seinem Rücken und zu beiden Seiten in den Lehnstuhl gesteckt hatte, hielten die abgezehrte, gebrechliche Gestalt aufrecht.

„Heda!“ rief der Doctor, indem er mit dem Stock drohte; „Was sind denn das für Extravaganzen? … Wer, in’s Henkers Namen, hat Dir denn das Schreiben erlaubt? Willst Du wohl gleich die Feder hinlegen?“

Hellwig drehte sich um – ein heiteres Lächeln spielte um seine Lippen.. „Da hast Du wieder einmal das Exempel!“ erwiderte er sarkastisch. „Doctor und Tod gehören zusammen… Ich schreibe da an den Jungen, den Johannes, über die kleine Fee, und da fällt mir, der ich in meinem ganzen Leben nie weniger an’s Sterben gedacht habe, als gerade jetzt, in dem Augenblick, wo Du in’s Haus trittst, der Satz da aus der Feder.“

Der Doctor bog sich nieder und las laut: „Ich halte viel von Deinem Charakter, Johannes, und würde deshalb auch unbedingt die Sorge um das mir anvertraute Kind in Deine Hände legen, falls ich früher aus der Welt gehen sollte, als –“

„Basta, und nun für heute kein Wort weiter!“ sagte der Lesende, während er einen Kasten aufzog und den halbvollendeten Brief hinein legte. Dann griff er rasch nach dem Puls des Kranken, und sein Blick glitt verstohlen über die zwei cirkelrunden, rothen Flecken, die auf den scharf hervortretenden Backenknochen glühten.

„Du bist wie ein Kind, Hellwig!“ schalt er. „Ich darf nur den Rücken wenden, so machst Du sicher dumme Streiche.“

„Und Du tyrannisirst mich himmelschreiend. Aber warte nur, mit nächstem Mai brenne ich Dir durch und dann magst Du mir meinetwegen bis in die Schweiz nachlaufen.“

Tags darauf standen die Fenster des Krankenzimmers im Hellwig’schen Hause weit offen. Ein durchdringender Moschusduft quoll heraus in die Straße, und ein Mann in Trauerkleidung schritt durch die Stadt, um den Honoratioren im Auftrag der trauernden Wittwe anzuzeigen, daß Herr Hellwig vor einer Stunde das Zeitliche gesegnet habe.


6.

Unter dem grünverhangenen, nach der Hausflur mündenden Fenster, da, wo vor fünf Jahren die schöne, unglückliche Frau des Taschenspielers die Pein tiefer Demüthigung erlitten hatte, stand der Sarg mit Hellwig’s sterblichen Ueberresten. Man hatte die Hülle des ehemaligen Kauf- und Handelsherrn noch einmal mit allem Glanz des Reichthums umgeben. Massiv silberne Handhaben schimmerten am Todtenschrein, und das Haupt des Heimgegangenen ruhte auf einem weißen Atlaskissen. – Schrecklicher Contrast! Neben dem eingefallenen Todtengesicht dufteten frisch abgeschnittene Blumen, junges, unschuldiges Leben, bestimmt, vor der Zeit zu sterben zur Ehre des Todten!

Viele Leute kamen und gingen, flüsternd und geräuschlos. Der da lag, war ein reicher, angesehener und sehr freigebiger Mann gewesen, aber nun war er ja todt. Fast Aller Augen huschten, scheu und rasch über die bleichen, zerstörten Züge und konnten sich nicht satt sehen an dem Prunk, dem letzten Aufflackern irdischer Herrlichkeit.

Felicitas kauerte in einer dunkeln Ecke, hinter den Kübeln mehrerer Oleander und Orangenbäume. Zwei Tage hatte sie den Onkel nicht sehen dürfen, das Sterbezimmer war fest verschlossen gewesen, und nun kniete sie da auf den kalten Steinfließen und starrte hinüber auf dies völlig fremde Haupt, dem der Tod selbst das Gepräge unbegrenzter Gutmüthigkeit weggewischt hatte. … Was hatte das Kind vom Sterben gewußt! Sie war in seinen letzten Augenblicken bei ihm gewesen und hatte doch nicht verstanden, daß mit dem Blutstrom, der über seine Lippen geflossen, plötzlich Alles enden müsse. Er hatte die Augen mit einem unbeschreiblichen Ausdruck auf sie geheftet, als sie aus dem Zimmer geschickt worden. Draußen in der Straße war sie tief besorgt und zornig vor den weit offenen Fenstern des Krankenzimmers auf und ab gelaufen – sie wußte ja, er hütete sich ängstlich vor jedem Zuglüftchen, und nun waren sie so rücksichtslos da drinnen. Sie hatte sich gewundert, daß Abends kein Feuer im Kamin gemacht werde, und auf ihre endliche Bitte, dem Onkel die Lampe und den Thee hineintragen zu dürfen, hatte Friederike ärgerlich gerufen: „Ja, Kind, ist’s denn nicht richtig bei Dir, oder verstehst Du kein Deutsch? Er ist ja todt, todt!“ Nun sah sie ihn wieder, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und jetzt erst fing das Kind an, zu begreifen, was Tod sei.

Sobald, ein frischer Strom Neugieriger die Hausflur füllte, kam Friederike aus der Küche, hielt den Schürzenzipfel vor die Augen und pries die Tugenden des Mannes, den sie zu ärgern gesucht hatte, wo sie konnte.

„Da seh’ Einer das Mädchen an!“ unterbrach sie sich zornig, als sie Felicitas’ blasses Gesichtchen mit den heißen, trockenen Augen zwischen den Orangenbäumen entdeckte. „Ob sie auch nur eine einzige Thräne vergießt! .… Undankbares Ding! Sie muß doch auch keinen Funken von Liebe in sich haben!“

„Du hast ihn nie lieb gehabt und weinst, Friederike!“ entgegnete die Kleine schlagend, aber mit völlig tonloser Stimme und zog sich tiefer in ihre Ecke zurück.

Die Hausflur leerte sich allmählich. Statt der Schaulustigen aus den niederen Ständen, die sich jetzt draußen auf dem Markt postirten, um den Leichenzug mit anzusehen, erschienen vornehme, schwarzbefrackte Herren; sie gingen, nach kurzem Aufenthalt am Sarge, in das Wohnzimmer, um der Wittwe ihr Beileid auszusprechen. In der großen, hochgewölbten Flur herrschte augenblickliche Stille, sie hätte eine feierliche genannt werden können, wäre sie nicht hier und da durch das Stimmengesurr drin im Zimmer unterbrochen worden.

Da fuhr die kleine Felicitas jäh aus ihrem tiefen Sinnen auf und starrte erschrocken nach der Glasthür, die in den Hofraum führte. Dort hinter den Scheiben erschien ein merkwürdiges Gesicht, – er lag doch hier mit den tiefeingesunkenen Augen und den unbekannten Zügen um den festgeschlossenen Mund, und dort blickte er forschend in die menschenleere Flur, wiedererstanden mit dem gütevollen Ausdruck des Gesichts, wenn auch der Kopf in fremdartiger Weise umhüllt erschien … War es doch fast gespenstig, als das Thürschloß sich leise bewegte und gleich darauf die Thür geräuschlos aufging. … Die seltsame Erscheinung trat auf die Schwelle. Ja, es waren Hellwig’s Züge in frappanter Aehnlichkeit, aber sie gehörten einem weiblichen Wesen, einer kleinen alten Dame, die in wunderlicher, dem Reich der Mode längst entrückter Tracht langsam auf den Sarg zuschritt. Ein sogenanntes Zwickelkleid von schwerem schwarzen Seidenstoff, vollkommen faltenlos, spannte sich förmlich über sehr eckige, magere Formen; es war kurz und ließ ein Paar wunderkleiner Füßchen sehen, die jedoch ziemlich unsicher auftraten. Ueber der Stirn kräuselte sich eine Fülle schöngeordneter, schneeweißer Locken, und darüber lag ein klar durchsichtiges schwarzes Spitzentuch, das unter dem Kinn gebunden war.

Die alte Dame bemerkte das Kind nicht, das unbeweglich und athemlos zu ihr aufsah, und trat an den Sarg heran. Sie fuhr bei Erblicken des Todtenantlitzes sichtlich entsetzt zurück, und ihre linke Hand ließ wie unbewußt ein Bouquet köstlicher Blumen auf die Brust der Leiche fallen. Einen Augenblick verbarg sie ihre Augen im Taschentuch, dann aber legte sie die Rechte tief erschüttert, in feierlich beschwörender Weise auf die kalte Stirn des Todten.

„Weißt Du nun, wie Alles zusammenhing, Fritz?“ flüsterte sie. „Ja, Du weißt es – Du weißt es, wie ja auch längst Dein Vater und Deine Mutter es wissen! … Ich habe Dir verziehen, stets verziehen, Fritz – Du wußtest ja nicht, daß Du Unrecht thatest! … Schlaf wohl – schlaf wohl!“

Sie nahm die wachsbleiche Hand des Verstorbenen noch einmal zärtlich zwischen ihre beiden Hände; dann trat sie vom Sarge zurück und wollte sich eben so geräuschlos entfernen, wie sie gekommen war. In diesem Augenblick öffnete sich die Thür des Wohnzimmers, und Frau Hellwig trat heraus. Ihr Gesicht erschien unter der schwarzen Krepphaube weißer als Marmor, aber die Unbeweglichkeit ihrer Züge trat auch schärfer hervor denn je – man suchte vergebens nach der leisesten Spur vergossener Thränen an diesen Augen. Sie hielt einen plumpen Kranz von Dahlien in den Händen, offenbar, um ihn als letzte ‚Liebesgabe‘ auf den Sarg zu legen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 340. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_340.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)