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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

wollte ja auch durchaus, die arme Frau sollte übermorgen zu Hause bleiben, Aennchens wegen; aber da kam die andere Reisegesellschaft und hat vorgebeten – was konnte er da machen? … Dies blaue Kleid wird ihr hübsch anstehen zur Reise, meinen Sie nicht, Friederike?“

Die Enthüllungen der leichtsinnigen Kammerjungfer machten auf Felicitas einen peinlichen Eindruck. Sie glitt vom Sims herab, um noch einmal in die Gesindestube zurückzukehren; vielleicht verhinderte ihre Anwesenheit weitere Mittheilungen über Verhältnisse, die doch sicher nicht zu fremden Ohren dringen sollten. Ohne eigentliches Ziel streifte ihr Auge noch einmal das ihr gegenüberliegende Seitengebäude – sie stutzte. Die Astrallampe im Vorsaal des zweiten Stockes warf ihren Schein auch in den langen Corridor, der nach Tante Cordula’s Wohnung führte. Die ersten zwei Fenster waren ziemlich hell erleuchtet, man konnte die schlechtgetünchte Hinterwand sehen, aus welcher die alten Balken braun heraustraten. An dieser Wand hin glitt eine Gestalt, aber nicht als durchsichtiger, spukhafter Schatten – Er war’s, den die Kammerjungfer so häßlich nannte. Felicitas sah deutlich die kräftigen Linien seines Kopfes, die starren Wellen des mächtigen Bartes, den hünenhaften Oberkörper, der in seinen Formen, seinen Bewegungen freilich jeden Begriff von Eleganz ausschloß. Er durchschritt, mechanisch und unablässig mit der Hand über den Bart gleitend, die ganze Länge des Corridors bis an das letzte Fenster, das an den Vorplatz mit der gemalten Thür stieß, und hinter welchem der sehr entfernte Lampenschein nur noch matt und unheimlich aufdämmerte; dann kehrte er zurück. Er machte ohne Zweifel seine nächtliche Promenade, und weil unter seinem Zimmer die Regierungsräthin und das Kind schliefen, so durchwandelte er ungehört den einsamen, abgelegenen Gang… Was trieb ihn wohl so rastlos auf und ab? Grübelte er über einem medicinischen Problem, oder umflatterte ihn das Bild der Entfernten, um deren willen er einen „einsamen Lebensweg“ gehen mußte?

Sinnend schloß Felicitas das Fenster und zog die alten, verblichenen grünwollenen Vorhänge dicht zusammen, welche seit Menschengedenken die Träume der Köchinnen im alten Kaufmannshause behüteten.


18.

Draußen im Garten, auf dem großen Wiesenfleck, den die Nußbäume beschatteten, war vor wenigen Tagen das Gras gemäht worden. Ein herzerquickender, kräftiger Duft entstieg den Heuhaufen, auf deren einem Aennchen behaglich die armen, kleinen Glieder ausstreckte. Felicitas lehnte am Stamm des größten der Nußbäume; er war immer ihr Liebling gewesen. Da droben hatten einst ihre leichten Kinderfüße gestanden, und nicht allein das Rasenstück unten, sondern die ganze, weite, himmlische Welt war ihr blumenbestreut erschienen. Ihr Auge glitt an dem Riesenstamm empor bis in das dunkle Herz, von wo aus das gewaltige Geäst sich weit und verwegen in die Lüfte hinausreckte. Da drin, hinter der rauhen Rinde, pulsirte auch Leben; es stieg hinauf und fluthete bis in das zarte Geäder der Blätter, die wie Fühlfäden hinaustrieben in die Welt und dem alten Stamm wohl schwer zu schaffen machten – sie zitterten in jedem Lufthauch, brausten jäh auf, wenn der rauhe Wind über sie hinstrich, und sanken schlaff nieder unter dem sengenden Strahl der Sonne; aber mochte es droben auch zittern, seufzen und rauschen, der Stamm stand ungebeugt – und das Menschenkind? Wie leicht brach es zusammen, wenn der Sturm des Schicksals über sein Empfinden hinbrauste!

Dieser ernste Gedanke – so oft er sich auch bewahrheitet – hinter der weißen Mädchenstirn, die sich leuchtend abhob von der dunklen Baumrinde, war er wohl nicht ganz gerechtfertigt. Gerade dies junge Geschöpf, so eigenartig, so zart und tief in seinem Empfinden angelegt, hatte Stürmen getrotzt, die tausend Andere seines Geschlechts in den Staub niedergeworfen haben würden. Vielleicht entsprang jene trübe Reflexion der unbewußten Furcht, der plötzlichen Ahnung einer unbekannten Gefahr, unter welcher der gestählte Wille des jungen Mädchens doch dereinst zusammenbrechen konnte. Wie wenig vermögen wir selbst die Vorgänge in unserem Seelenleben zu begreifen – wir fassen sie so verkehrt und ungeschickt auf, wie es einem fremden, unparteiischen Blick gar nicht einmal möglich sein würde, und erst wenn hereinbrechende Katastrophen vorüber sind, erkennen wir, daß wir ihr Eintreten vorher gefühlt und gewußt haben.

Seit der Abreise des Professors und der Regierungsräthin waren bereits zwei Tage verstrichen. Der Erstere war mit einem Gesichtsausdruck und einer Bewegung in den Reisewagen gestiegen, als schüttle er eine schwere Last ab, die er gern und freudig der guten kleinen Stadt X. hinterlasse. In der Hausflur hatte er Rosa, Heinrich und der alten Köchin abschiednehmend die Hand gereicht – an Felicitas aber war er, die Hutkrempe leicht berührend, vorübergeschritten, fremd und so ruhig, als habe dieser Mädchenmund nie ein herbes Wort zu ihm gesprochen, als kenne er die Augen nicht, die ihn so oft durch ihren trotzigen Ausdruck geärgert hatten. Nun, das war ja recht und vernünftig, meinte Felicitas mit zusammengepreßten Lippen, nun war er doch, wie er sein sollte… Ihm gegenüber hatte die junge Wittwe Platz genommen. Sie war wie eine Fee inmitten bläulicher Wolken an den Abschiednehmenden vorübergeschwebt, und unter dem italienischen Strohhütchen hatte das Gesicht so hoffnungsvoll gestrahlt, als sei sie gewillt, von dieser Reise ein langersehntes Glück mit heimzubringen.

Es war der zweite Nachmittag, den Felicitas mit Aennchen allein im Garten verbringen durfte – das waren nicht blos friedliche Stunden, sie hatten ihr auch Angenehmes – Wunderbares, wie sie es nannte – von außen her gebracht. Der Nachbargarten, den nur ein lebendiger Zaun von dem Hellwig’schen Grundstück trennte, zwar vor einigen Tagen in den Besitz der Frank’schen Familie gekommen. Gestern hatte der Rechtsanwalt über den Zaun hinweg in seiner liebenswürdigen, vertrauenerweckenden Weise freundliche Worte mit ihr gewechselt, und heute hatte plötzlich eine alte Dame im schwarzen Seidenkleid, das liebe, gütevolle Gesicht von einem weißen Häubchen umrahmt, dort gestanden und sie angeredet. Es war die Mutter des jungen Frank gewesen. Sie lebte äußerst zurückgezogen nur für ihren Mann und den einzigen Sohn und war eine in der Stadt hochgeachtete Persönlichkeit. Sie hatte im Hinblick auf Felicitas’ baldiges Scheiden aus dem Hellwig’schen Hause dem jungen Mädchen Rath und Beistand angeboten – ein ungeahnter Sonnenstrahl im Leben des mißachteten Spielerskindes! … Und dennoch lehnte Felicitas jetzt in ernstes Sinnen verloren, da am alten Nußbaum. Ueber ihr zog es leise durch den dunklen Wipfel – sie lächelte trübe – in dem Geflüster hörte sie Nachklänge eines versunkenen Paradieses. – Ihre halbzertretene erste Jugend zog an ihr vorüber, und jetzt klang ihr das leise Rauschen anders in der finsteren Prophezeiung: sie sei berufen zu kämpfen, zu leiden bis zum letzten Athemzug… Daß aber das Verhängniß in diesem Augenblick bereits über ihre schwachen Lebenshoffnungen zermalmend hinschreite – das hörte sie doch nicht.

Heinrich war vor wenigen Augenblicken zur Gartenthür hereingekommen; es hatte ausgesehen, als wolle er auf Felicitas in stürmischer Eile zulaufen, dann aber war er hinter einer Taxuswand verschwunden. Jetzt kam er langsam hervor. Mit dem ersten Blick auf dies breite, ehrliche, aber furchtbar verstörte Gesicht wußte das junge Mädchen, daß er Unheil bringe – von welcher Seite kam es? Sie sprang ihm entgegen und faßte angstvoll seine Hand.

„Ja, Fee’chen, ich kann Dir nicht helfen, – erfahren mußt Du’s doch einmal,“ sagte er tonlos, während er sich mit der verkehrten, schwieligen Hand über die erhitzte Stirn strich und die Augen wegwandte. „Siehst Du, armes Ding, das ist ja nun einmal so der Welt Lauf –“

„Weiter!“ unterbrach sie ihn rauh, fast aufschreiend; dann biß sie krampfhaft die Zähne zusammen.

„Ja doch – daß Gott erbarm, wenn Du so bist, wie soll ich Dir’s denn da beibringen? … Die alte Mamsell –“

„Ist todt!“ vollendete sie in gellenden Tönen.

„Noch nicht, Fee’chen, noch nicht; aber freilich – so gut, als wär’s schon vorbei, sie kennt schon Niemand mehr – der Schlag hat sie gerührt… Ach du lieber Gott, und so mutterseelenallein ist sie gewesen! Die Aufwartfrau hat sie gefunden, in der Vogelstube, auf dem Boden hat sie gelegen – hat erst noch für die armen Creaturen gesorgt –“ Die Stimme versagte ihm, er weinte wie ein Kind.

Felicitas stand im ersten Augenblick erstarrt, der letzte Blutstropfen war aus ihrem weißen Gesicht entwichen; mechanisch preßte

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 452. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_452.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)