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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Aus deutschen Gerichtssälen.
3. Nach acht Jahren.


Die Gartenlaube, welche sich die Aufgabe gestellt hat, das gesammte Gebiet des Familien-, des öffentlichen und des Volkslebens in das Bereich ihrer Darstellungen und Belehrungen zu ziehen, hat die Pflicht, auch solchen Mittheilungen nicht aus dem Wege zu gehen, denen man vielleicht versucht sein könnte, ausschließlich in den Gerichtszeitungen ihren Platz anzuweisen. Dieses Motiv allein hat uns bestimmen können, im Verfolg unserer Veröffentlichungen „aus deutschen Gerichtssälen“ mit der nachstehenden Erzählung an eine allerdings sehr delicate Frage heranzutreten, weil uns bei der Wichtigkeit des Falles, bei seinem Eingreifen in die zartesten Beziehungen des Familienlebens, bei seiner Bedeutung für Glück oder Unglück weiterer Kreise zwingend geboten schien, jener höheren Pflicht die Rücksicht auf das von uns sonst mit emsiger Sorgfalt gewahrte conventionelle Herkommen einmal zum Opfer zu bringen. Wir sind keinen Augenblick in Zweifel, daß uns die gereifte Anschauung und das unbefangene Urtheil unserer Leser für die Mittheilung des höchst interessanten und ergreifenden Rechtsfalles, wie ihn ein höherer preußischer Justizbeamter aus seiner eigenen amtlichen Erfahrung aufzeichnet, nur Dank wissen, in keinem Falle aber der Gartenlaube die allen ihren Artikeln fernliegende Absicht beimessen werde, nur müßiger Neugier eine pikante Unterhaltung bereiten zu wollen.


Es war ein prächtiges Paar, Beide echte Kinder Schlesiens. Er, der Schulzensohn, ein stämmiger, dunkeläugiger Bursch von neunzehn Jahren mit Zügen, in denen Offenheit, Freundlichkeit und Intelligenz eine schöne Mischung bildeten; sie, des reichen Wassermüllers einzige Tochter, ein blondes herziges Mädchen, das, Jungfrau in seiner ganzen Erscheinung, mit seinen runden blauen Augen so kindlich-heiter in die Welt schaute, als gäbe es nichts Böses darin, und dessen Gesichtsausdruck durch den mit dem Auge contrastirenden schwermüthigen Zug um den feinen Mund einen eigenthümlichen Reiz erhielt.

Sie waren für einander bestimmt. Als dem Wassermüller nach mehrjähriger kinderloser Ehe das Töchterchen geboren und von dem bewährten Freunde, dem Schulzen, aus der Taufe gehoben worden war, trat der Müller noch in der Kirche an ihn heran und sagte, indem er auf den damals fünfjährigen Knaben des Schulzen hinwies:

„Höre, Nachbar, die Anna soll für den Joseph sein, wenn sie mir Gott am Leben läßt und sie ein schmuckes Mädchen wird. Schulzenhof und Mühle sollen dann ein Gut werden, wie es meilenweit in der Runde kein zweites giebt. Bist Du’s zufrieden, so schlag’ ein!“

Und der Schulze legte seine Hand gewichtig in die des Müllers und erwiderte:

„Der liebe Gott hat uns Beiden nur ein Kind geschenkt. Wenn es dabei bleibt und der Joseph und die Anna sich lieb gewinnen, so werde ich es mit Freuden sehen, wenn sie ein Paar werden und dereinst unsere Höfe vereinigen. Die Sache ist ein für allemal abgemacht.“

Die Voraussetzungen des Schulzen verwirklichten sich. Beide Kinder blieben ohne Geschwister und fingen um so eher an, sich bald als solche zu betrachten, als sie der sich immer herzlicher gestaltende Verkehr der Eltern häufig zusammen führte und nicht allein die exclusive Stellung der Letzteren als reichste Grundbesitzer im Orte, sondern auch die Entfernung der in diesem Landestheile weit von einander liegenden Bauerhöfe ihren Verkehr mit andern Kindern erschwerte. Sehr bald wurde die kleine Anna der Schützling ihres prädestinirten Gatten und dieser erfüllte in dem stolzen Gefühl seiner Superiorität treulich alle Pflichten des Ritters in schweren Kämpfen mit den bissigen Dorfhunden oder dem durch das rothe Kleidchen des Kindes zur Wuth gereizten Truthahn. Anna war aber auch ein dankbares Schwesterchen. Kein guter Bissen wurde im Mühlhofe gebacken oder gekocht, von dem sie nicht mit echt weiblicher Selbstverleugnung dem Joseph einen reichlichen Antheil überbrachte, und wenigstens einige auf dem Wege zum Schulzenhofe gepflückte Feldblumen mußten Zeugniß ablegen für die freundliche Gesinnung, die sie in ihrem kleinen Herzen für den lieben Gespielen hegte.

Die beiderseitigen Eltern freuten sich innig darüber, daß die Kinder ihren Absichten so zwanglos entgegen kamen und daß sich deren Zuneigung von Tag zu Tag steigerte. Auch die Zeit, in welcher beide Kinder die Schule besuchten und durch besonderen Unterricht bei dem schon erwähnten Geistlichen eine über ihre künftige Lebensstellung weit hinausreichende Ausbildung erhielten, störte ihren innigen Verkehr nicht. Sahen sie sich jetzt auch nicht so häufig, wie früher, und waren es nicht mehr die kindlichen Spiele allein, in denen die Regungen ihrer Herzen sich begegneten, so wurde es ihnen ein angenehmes Bedürfniß, ihre Kenntnisse durch gegenseitigen Austausch des Erlernten zu befestigen und zu erweitern. Beide lebten sich immer mehr Eins in das Andere hinein, und als am Tage, da Joseph confirmirt wurde, der Geistliche nicht blos ihm den Segen ertheilte, sondern – wie zufällig – die Hand auch auf das lockige Haupt des Mädchens legte, das sich, um jeden Moment der heiligen Handlung zu erfassen, dicht an den Jugendgespielen herangedrängt hatte, da erschien dieser Umstand den beiden Vätern wie eine höhere Bestätigung ihrer getroffenen Verabredung und sie bekräftigten diese auf’s Neue durch Wort und Handschlag.

Anna entwickelte sich auffallend schnell. Sie hatte das dreizehnte Jahr kaum überschritten, als der Hauch der Jungfräulichkeit sich auf ihre anmuthigen Züge legte und die Beweglichkeit und Unbefangenheit des Kindes der Ruhe und dem sinnenden Ernst des Weibes wich. Ihr Verhalten gegen Joseph änderte sich, weil sie sich nach und nach eines andern, tieferen Gefühls, als das der Freundschaft, für ihn bewußt wurde. Ihre Liebe zu ihm ließ sie in seiner Gegenwart scheu und schweigsam erscheinen und eine geraume Zeit konnte man glauben, daß sie jedes Zusammentreffen mit ihm zu vermeiden suche. Joseph empfand Aehnliches. Er, der offene, brave Junge, wurde ebenfalls schweigsam und verschlossen und fühlte sich in seinem achtzehnten Lebensjahre unbeholfener und gedrückter, als jemals, wenn er mit ihr verkehrte. Er fand niemals das richtige Wort, wenn er mit ihr sprach, und wenn er ihr gar einmal längere Zeit in die tiefblauen Augen sah, so schien es ihm immer, als ob alle Gegenstände eine kreisende Bewegung um ihn annähmen und sein Denkvermögen plötzlich paralysirt sei. Er ärgerte sich über sich selbst, er ärgerte sich aber auch über die Anna, weil sie ihm nicht mehr, wie früher, zu Hülfe kam. Nichtsdestoweniger zog es ihn immer und immer wieder zu ihr und im Geheimen befriedigte er mit innigem Behagen jeden Wunsch des Mädchens, der zu seiner Kenntniß gekommen war, oder suchte ihr unbemerkt jene kleinen Aufmerksamkeiten zu erweisen, die ein wesentliches Kennzeichen der Liebe bleiben, mag sie in der Hütte des Bauern oder in den Salons der Fürsten ihre duftenden Blüthen treiben.

„Wäre es nicht gut,“ sagte eines Tages die Schulzenfrau zu ihrem Manne, „wenn Du den Joseph jetzt zum Schwager schicktest, wie Du es beabsichtigst, und ihn zwei oder drei Jahre dort ließest, um sich so recht in der Landwirthschaft zu vervollkommnen?“

„Warum schon jetzt?“ fragte der Schulze, dem das veränderte Verhalten des Sohnes zwar nicht entgangen war, der sich aber über die Ursache nicht weiter Sorge gemacht hatte. „Joseph sollte ja bis zum zwanzigsten Jahre hier bleiben.“

„Weil’s nicht taugt, wenn ein neunzehnjähriger Bursche und ein Mädchen von vierzehn Jahren, das für achtzehn gelten kann, fast täglich mit einander verkehren. Die Gevatter Müllerin hält’s auch nicht für gut.“

„Unsinn!“ polterte der Schulze. „Ich hoffe doch nicht, daß die Frau Gevatterin an meines Jungen Rechtschaffenheit zweifelt?“

„So wenig als ich an dem tugendhaften und ehrbaren Sinn der Anna,“ erwiderte die Frau mit dem Gefühl begründeten Mutterstolzes. „Aber,“ fügte sie weich hinzu, „wie brav und rechtschaffen wir auch sein mögen, wir beten doch täglich: Führe uns nicht in Versuchung! und hoffen auf Erhörung. Und da dächte ich, wir müßten für unser eigen Fleisch und Blut die Versuchung zu allererst aus dem Wege räumen.“

Der Schulze sah sie einige Augenblicke nachdenklich an. Dann ging er auf sie zu, klopfte sie herzlich auf die Schulter und mit den Worten: „Du hast Recht, Alte!“ verließ er das Zimmer. Bald darauf sah man ihn im Sonntagsrock mit den silbernen


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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 550. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_550.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)