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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

dadurch gezwungen, in X. zu bleiben. … Mittlerweile hatte er den Rechtsanwalt Frank, als Curator der Hirschsprung’schen Erben, in das Familiengeheimniß eingeweiht und ihm den festen Entschluß ausgesprochen, das Unrecht sühnen zu wollen. Alle Einwürfe, die der Freund vom juristischen Standpunkt aus versuchte, diese Sühne wenigstens zu beschränken, entkräftete der Professor stets durch die entschiedene Frage, ob er das Geld für ein ehrlich erworbenes halte, und das konnte selbst der Advocat nicht mit „ja“ beantworten. Uebrigens meinte der Rechtsanwalt genau wie Frau Hellwig, wenn auch von einem anderen Gesichtspunkt aus, es sei dies ein Streiten um des Kaisers Bart, denn er glaube nicht an die Existenz einer Hirschsprung’schen Familie. Aber seiner Ansicht nach durfte dem strenggläubigen Verwandten am Rhein, dem hochangesehenen Herrn Paul Hellwig, eine tüchtige Nervenerschütterung nicht erspart werden, und deshalb wurde der wehrhafte Streiter Gottes zur Herausgabe der veruntreuten zwanzigtausend Thaler aufgefordert. Der fromme Mann antwortete ruhig, mit dem gewohnten salbungsvollen Schwung, er habe allerdings diese Summe von seinem Onkel erhalten, als Tilgung einer alten Familienschuld, denn sein Vater sei von der Hellwig’schen Hauptlinie übervortheilt worden. Woher der Onkel das Geld genommen, sei ihm völlig gleichgültig gewesen und mache ihm auch jetzt nicht die mindesten Scrupel – das sei nicht seine Sache. Das Geld befinde sich in den besten Händen; er betrachte sich überhaupt nicht als den Besitzer seines Vermögens, sondern als Verwalter und zwar im Dienste des „Herrn“. Er werde den Besitz der Summe aus diesem Grunde mit allen Kräften zu vertheidigen wissen und es getrost auf einen Proceß ankommen lassen. …

Ziemlich ebenso antwortete Nathanael, der Student. Ihm war es „sehr egal“, was ein längst vermoderter Vorfahr vor so und so vielen Jahren verschuldet hatte – er hielt sich durchaus nicht für verpflichtet, Anderer Sünden weiß zu waschen, und wollte sein Erbtheil auch nicht um einen Pfennig verkürzt sehen; auch er erwartete einen Proceß in aller Gemüthsruhe, wie er schrieb, und freute sich bereits auf den Moment, wo die muthmaßlichen Erben die Kosten und sein „überspannter“ Herr Bruder seinen hochangesehenen Namen hinterdrein werfen würden.

„Da bleibt mir also nichts übrig,“ sagte bitterlächelnd der Professor, indem er diese schriftlichen Zeugen Hellwig’scher Ehrenhaftigkeit auf den Tisch warf, „als Alles zu opfern, was ich an Erbtheil und Ersparnissen besitze, wenn ich nicht auch Hehler und Mitwisser einer schlechten Sache sein will!“

So war allmählich das Ende der Ferien herangekommen. Frau Hellwig war wieder außer Bett, hatte aber entschieden erklärt, ihren Sohn vor seiner Abreise nur unter der Bedingung noch einmal wiederzusehen, daß er den ganzen „verrückten“ Hirschsprung’schen Handel als niedergeschlagen betrachte und seinen Entschluß, Felicitas zu heirathen, widerrufe – das genügte, um Mutter und Sohn für immer zu trennen.

Felicitas befand sich in einer schwer zu beschreibenden Stimmung. So lange sie im Frank’schen Hause war, saß sie jeden Nachmittag zur bestimmten Stunde mit klopfendem Herzen am Fenster und sah verstohlen die Straße hinab – dann kam sie endlich um die Ecke, die kräftige, männliche Gestalt mit dem mächtigen Vollbart und der ruhigen Haltung. Es bedurfte jedesmal der ungeheuersten Selbstüberwindung, daß das junge Mädchen nicht aufsprang und ihm bis auf die Straße entgegenging. … Dann kam er näher und näher, er sah nicht rechts, noch links, er grüßte die Vorübergehenden nicht – sein Blick haftete unverwandt auf dem Fenster, hinter welchem der Mädchenkopf sich scheinbar über die Arbeit neigte; endlich war der Moment gekommen, wo man aufsehen durfte – die vier Augen begegneten sich, ach, das Leben schloß doch ein Uebermaß der Glückseligkeit in sich, von der das junge Herz bis dahin nicht einmal geträumt hatte! – Der Professor sprach zwar nie mit einer Silbe über seine Liebe, Felicitas hätte denken können, dies Gefühl sei durch die letzten Ereignisse bei ihm völlig in den Hintergrund gedrängt worden, wären nicht eben seine Augen gewesen; aber diese stahlfarbenen Augen folgten ihr unablässig, sobald sie durch das Zimmer ging oder eine häusliche Verrichtung besorgte, sie leuchteten auf, wenn sie eintrat, wenn sie den Kopf von der Arbeit hob und ihm das Gesicht voll zuwandte. Sie wußte, daß sie noch „seine Fee“ war „die daheim auf ihn warten und an ihn denken sollte“, und in dem Sinn empfing sie ihn auch bei seinen nachmittägigen Besuchen. Das Mädchen mit dem einst so eisenharten Sinn, mit dem haßerfüllten Blick und der kalt zurückweisenden Haltung ahnte nicht, welch’ ein Zauber und Liebreiz ihrem ganzen Wesen jetzt entströmte; alles Schroffe, alle Härten dieses vielgeprüften Charakters waren untergegangen in der süßinnigen, demüthigen Liebe des Weibes.

Und da sollte nun morgen ein Tag werden, wo sie vergebens am Fenster sitzen und ihn erwarten würde. In der stets ersehnten Nachmittagsstunde war er bereits weit, weit von ihr entfernt, zahllose fremde Gesichter hatten sich zwischen ihn und seine Fee gedrängt – es verging vielleicht ein ganzes, unermeßlich langes Jahr, ehe sie ihn wiedersehen durfte; was sollte das für eine Zeit werden, die nun kam? … Felicitas blickte in einen öden, leeren Raum, in welchem sie sich nicht mehr zurecht finden konnte – sie hatte ja ihr Steuer verloren.

Am Tag vor der Abreise des Professors saß die Familie Frank und Felicitas beim Mittagsessen, als das Dienstmädchen eintrat und dem Rechtsanwalt eine Karte übergab. Ein jähes Roth der Ueberraschung schoß in sein Gesicht, er warf die Karte auf den Tisch und ging hinaus; auf dem kleinen, weißglänzenden Blättchen stand: „Lutz von Hirschsprung, Rittergutsbesitzer aus Kiel.“ … Man hörte draußen in der Hausflur eine männliche Stimme mit vornehmer Ruhe in elegantem Deutsch sprechen, dann gingen die zwei Herren hinauf in das Zimmer des Rechtsanwalts.

Während das Frank’sche Ehepaar sich über das Auftauchen dieses doch gewissermaßen in das Reich der Fabel versetzten Erben in einen lebhaften Gedankenaustausch vertiefte, saß Felicitas in großer Gemüthsbewegung schweigend da. … Das arme Spielerskind, das, losgelöst aus jeglicher Familienverbindung, bisher einsam inmitten Fremder gestanden hatte, befand sich plötzlich unter einem Dach mit einem unbekannten Blutsverwandten. … War er ihr Großvater, oder ein Bruder ihrer Mutter? Hatte diese ernst ruhige Stimme da draußen, deren Klang dem jungen Mädchen durch Mark und Bein gegangen, einst den Fluch gesprochen über die abtrünnige Tochter Derer von Hirschsprung?

Der Ankömmling nannte sich genau wie sein ausgewanderter Vorfahr. Dieser fast antediluvianisch klingende Name lag sehr aristokratisch mit viel Ostentation auf der kleinen Karte. Man liebt es, die alten Kraftnamen aus dem Schutt und Staub vergangener Jahrhunderte hervorzusuchen – sie lassen unwillkürlich eine eisenklirrende Rittergestalt vor uns aufsteigen und kennzeichnen doch das aristokratische Blut, wenn sie auch unserm heutigen Pygmäengeschlecht im schwarzen Frack wunderlich genug anstehen. … Diese Linie der Hirschsprungs legte ersichtlich viel Gewicht auf ihre Ahnen; es ließ sich fast mit Gewißheit voraussehen, daß die Taschenspielerstochter ihre Verwandtschaft mit dem Herrn Rittergutsbesitzer nicht ungestraft würde geltend machen können. Bei dem Gedanken an eine Zurückweisung empörte sich jeder Blutstropfen in Felicitas; sie schloß die Lippen fester aufeinander, als wolle sie damit jedes rasche Wort zurückdrängen, das ihr möglicherweise in der Aufregung entschlüpfen konnte. Dagegen ließ sich ihr lebhaftes Verlangen, den Mann zu sehen, nicht unterdrücken, und die Gelegenheit sollte ihr werden.

Bald nach der Ankunft des Fremden hatte der Rechtsanwalt den Professor zu sich beschieden. Die Conferenz der drei Herren dauerte weit über zwei Stunden. Während dieser Zeit der höchsten Spannung hörte Felicitas den Professor oft, aber mit ruhigem, gemäßigtem Schritt oben auf- und abgehen. Sie sah im Geiste, wie der Mann der Wissenschaft gelassen seine schöne, schlanke Hand über den Bart gleiten ließ und dem Aristokraten ruhig Geld und Gut bot, um den Schandflecken von der Ehre seines Namens zu vertilgen…

Später ließ der junge Frank seine Mutter bitten, Kaffee bereit zu halten, er werde mit seinem Besuch nach dem Schluß der Geschäfte in das Wohnzimmer kommen. Felicitas besorgte das Nöthige, und während sie noch in der Küche mit dem Ordnen des Kaffeegeschirres beschäftigt war, hörte sie die Herren bereits die Treppe herabsteigen. Fast wollte ihr der Muth sinken, als sie den Fremden langsam und in ein Gespräch mit dem Professor verwickelt durch die Hausflur schreiten sah. Es war eine fast übergroße, schmale Gestalt, die in Haltung und Geberden den feinen, formengewandten Weltmann, aber auch den gebietenden Herrn, den seiner bevorzugten Stellung sich bewußten Aristokraten unleugbar verrieth… Ihr Großvater war der Fremde keinenfalls,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 590. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_590.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)