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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Ich sagte endlich scherzend: „O Anna, damals warst Du liebenswürdig!“ Sie nahm es ernst und antwortete: „Ich hab’ es verlernt, das ist wahr!“ Und nach einer Weile: „Ich hätte in Eurem Hause bleiben sollen, oder hinaus in die Welt!“ Ich unterdrückte einen Seufzer, der sich mir unwillkürlich auf die Lippen drängte. Wie mit Einem Blick sah ich ihren ganzen schmalen Lebenslauf, der mir wie der kleine, eingeengte, langsame, nur von den blauen Vergißmeinnicht ein wenig verschönte Bach neben der Straße erschien, und dachte schwermüthig, wie das Alles anders hätte kommen können. Sie ließ mich eine Weile schweigen, dann fragte sie: „Denkst Du an Deine Schwester?“

„Nein. Warum?“

„Ich möchte sie wohl kennen lernen,“ sagte sie leiser.

„Du solltest sie einmal auf ihrem Landsitz besuchen, Anna. Sie ist eine sehr freundliche Wirthin.“

„Ich suche Niemand auf,“ antwortete sie, „der nicht nach mir verlangt.“

„O,“ sagte ich, „sie möchte Dich auch kennen lernen. Ich schreibe ihr oft von Dir.“

Sie blickte mit einem seltsam traurigen Lächeln: „Du? Da wird sie wohl alle Lust verloren haben, mich kennen zu lernen!“

„Anna,“ sagte ich, „bist Du nun wieder die alte Närrin?“ Sie sah mich groß mit verwunderten, zurechtweisenden Augen an. „Verzeih’ mir das Wort,“ setzte ich hinzu; ich war wieder in der Sprache unserer Backfischzeit. „Aber wirklich, Anna, Ihr solltet endlich miteinander bekannt werden. Ihr könntet mir dann gemeinschaftliche Briefe nach Italien schreiben.“

„Italien, immer Italien!“ murmelte sie und wandte sich hinweg. Dann sagte sie auf einmal hastig: „Du willst fort, wann reisest Du ab?“

„In wenigen Tagen.“

„Morgen?“

„Nein,“ sagte ich, „Du hörst, in wenigen Tagen.“

Nun verstummte sie wieder. Sie war so seltsam erregt; ich fühlte, wie sie mich ansteckte. Ich wollte eben die schwüle Stille mit einer vielleicht zu herzlichen Aeußerung unterbrechen, als von den Tannen her, auf der anderen Straße, die mit der unseren zusammentraf, die Cousinen und die kleine Freundin herankamen und sie lachend anriefen. Anna blieb in neuem Erröthen stehen. Ich bemerkte, wie sie auf einmal an allen Gliedern zu zittern anfing. Die Mädchen blickten uns Beide abwechselnd an, verzogen die Mundwinkel, stießen sich gegenseitig mit den Ellenbogen, begrüßten uns mit einem eigenthümlichen Lächeln, und ich fühlte, wie mir jeder Blutstropfen in Wallung gerieth. Ich warf ihnen mühsam ein paar Worte hin, die ihnen unsere Wanderung nothdürftig erklären sollten, und dachte: könnt’ ich sie umbringen! Auf einmal rief Cousine Emma: „Aber wie Du blaß wirst! Was ist Dir?“ Ich sah Anna wieder an; da stand sie schwankend wie ein Lilienstengel im Wind, das kreidige Weiß auf den Lippen, und war im Begriff, die Augenlider zu schließen.

Du denkst Dir meine Bestürzung, Julie! Mein erster, widriger Gedanke war: wie nun diese Geschöpfe sich das Alles zurechtlegen werden! mein zweiter, Hülfe zu schaffen. Wir stützten sie, wir fragten, was ihr fehle. Sie verlangte nur heim. Aber an Gehen war bei dieser Schwäche nicht zu denken. Sie kam ein wenig wieder zu sich und warf einen Blick auf mich, der mir wirklich durch Mark und Bein ging. Endlich entschloß ich mich, so hart es mich ankam, sie mit den Frauenzimmern allein zu lassen und einen Wagen zu holen. Ich war so verwirrt, daß ich den nächsten, der mir entgegenkam, fast hätte vorbeifahren lassen. Als ich dann mit dem Gefährt zu der Stelle zurückkam, wo sie gegen einen Baum gelehnt, ein wenig zusammengefallen, wie ein welkes Schneeglöckchen dastand und mir mit matten Augen entgegensah, fühlte ich die herzlichste Freude – so hatte mich der plötzliche Anfall in Angst versetzt – sie doch noch aufrecht, noch lebendig zu sehen. Wir halfen ihr in den Wagen hinein, die Mädchen setzten sich ihr gegenüber, man ließ mich dankend stehen, rollte im Staub davon, und so hatte dieser seltsame Trauergang sein trauriges Ende.

Gegen Abend erkundigte ich mich, wie es ihr gehe. Der Arzt war da gewesen, er hatte versichert, eine ernstliche Erkrankung sei nicht zu fürchten, es sei offenbar nur eine wunderliche Erschöpfung und Ermattung, die Nerven seien verstört, das werde vorübergehen. Sie beginnt denn auch, sich langsam zu erholen, aber so langsam, daß ich nun schon acht Tage darüber verloren habe. Stehen und Gehen wird ihr sauer. Im Bett will sie auch nicht liegen; lesen, sich vorlesen lassen, das ist ihr liebstes Vergnügen. Und so ist es denn mein Amt, ihr täglich gute Bücher zu bringen; nur gute, andere will sie nicht, und was ihr die Freundinnen vom Verleiher in’s Haus schleppen, legt sie still bei Seite. Aber am glücklichsten ist sie, wenn ich ihr vorlese. Da werden ihre Augen höchst lebendig und die horchsamen Lippen schließen sich so schön. Ihre Blässe kleidet sie gut, der Ausdruck ihres Gesichtes hat an Geistigkeit unendlich gewonnen, seit ich sie zum ersten Male wiedersah.

Ja, liebe Julie, noch bin ich nicht abgereist. Es ist mir widerwärtig, sie jetzt den andern Menschen zu überlassen, deren Gegenwart sie nur belastet, davonzugehen, ohne sie genesen zu wissen – kurz, ich habe meinen Entschluß noch nicht gefaßt, wozu es weiter erklären. Meine Pflichten drängen mich nicht. In Rom brauch’ ich nicht vor einem Monat zu sein. Ich hatte vor, langsam über Südfrankreich hinzuschlendern, jetzt werde ich vielleicht diesen Umweg aufgeben, das ist Alles. Ach, Julie, ich fühle mich so seltsam hin und her gezogen! Doch genug davon, wir sind nicht die Herren unseres Schicksals, wir thun ja, was man uns eingiebt.




Fünfter Brief.

Liebe Julie, ich brüte über Deinen letzten Brief in der aufgeregtesten Stimmung. Du hast mich aus meiner Ruhe aufgeschreckt. Du hast es mir mit Deiner unerbittlich sicheren Hand gleichsam auf die Stirn geschrieben, daß ich nur noch die Wahl habe, entweder – Ernst zu machen, oder davonzugehen. „Aus Deinen Briefen,“ schreibst Du, „erseh’ ich es deutlich, daß hier nicht länger gespielt werden darf!“ Julie, diese Worte haben mich seit gestern zum unruhigsten, verworrensten, unseligsten Menschen gemacht. Ja, ich sehe wohl, es muß ein Ende gemacht werden. Ich will fort, ich will fort. Zwar das Gerede der Leute kümmert mich nicht. Ich bin zu stolz, mir von den Zungen und Gesinnungen und Vorurtheilen der kleinen Menschen mein Leben vorschreiben zu lassen. Darum hab’ ich es auch verschmäht, Dich von den Sticheleien zu unterhalten, die mir reichlich zu Theil geworden, von den Vettern und Basen aus unser Beider Verwandtschaft, die sich mit heuchlerischen Kratzfüßen eingemischt, von den Blicken, dem Achselzucken, dem Aufpassen, an’s Fenster Fahren, Zusammenzischeln. Wohl ihnen, daß sie an ihrem Mitbürger, der sie von Herzen verachtet, wenigstens eine unerschöpfliche Unterhaltung haben! Nur einmal, an einem dieser letzten Tage, hab’ ich irgend einer Frau Gevatterin, die mir geradeheraus zur Verlobung glückwünschte, meine Meinung gesagt: daß ich nicht gesonnen bin, mir durch die niedrige Denkart der Menschen ein herzliches, altes, wohlerprobtes Freundschaftsverhältniß vergiften zu lassen. Da ist denn die Giftkröte wieder davongewatschelt… Aber sei ruhig, Schwester, ich seh’ es dennoch ein, ich muß fort. Ich werde gehen. Ich werde den Staub von meinen Füßen schütteln und wieder hoch aufathmen, wenn ich in freier Luft bin.

Es ist wahr – da Du es wissen willst – ich bin der einzige junge Mann, der in dem Hause so vertraulich verkehrt. Nur Anna’s Musiklehrer ausgenommen, den guten Walter, einen langjährigen Hausfreund, der immer schwarz gekleidet geht, sie mit Blumensträußchen und eigenen Compositionen beschenkt und sonst ein stiller, weichmüthiger, etwas melancholischer Mensch ist. Ihm beklatscht man seine Besuche und seine langgedehnten Musikstunden nicht, weil er mit einem anderen Mädchen, einer Jugendliebe, schon halb verlobt gesagt wird. Ich freilich, bei dem dies Beides zusammenfiele – was für ein dankbarer Stoff für unsere Spießbürger und Gevatterinnen, Julie, und wie würden sie schmunzeln! O, mir sträubt sich Alles, wenn ich nur daran denke. Es würde im ganzen Nest eine grenzenlose Schadenfreude sein. Wie sie mir die Hände schütteln und mir dabei in’s Gesicht lachen würden, und mit ihren fetten Fingern auf den „Italiener“ zeigen, der wieder eingeheimst sei, und daß es den vornehmen, jungen Gelbschnäbeln so zu ergehen pflege! Nein, nein! Dieses letzte Vergnügen wenigstens sollen meine geliebten Mitbürger nicht an mir erleben.

Ich bin so grimmig, Julie, so verstimmt, so voll Unmuth – – Ja, es ist Zeit, daß ich gehe. Es ist hohe Zeit. Mein Herz, denk’ ich, ist frei; aber ob auch das andere.… Ich sage nichts weiter; erlaß mir’s. Es wird mich noch eine harte Stunde

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 802. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_802.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)