Seite:Die Gartenlaube (1871) 243.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


sein Benehmen anders auf; sie war gewöhnt, überall, wo sie nur erschien, Gegenstand der größten Aufmerksamkeit zu sein, war überhaupt an die oft übertriebenen Rücksichten gewöhnt, welche in Amerika jede Dame selbst von dem Fremdesten beanspruchen darf, und nun zeigte sich dieser Mensch, dem Aussehen und der Sprache nach doch ein Gentleman, so wenig empfänglich für die Ehre, eine Lady begleiten zu dürfen, daß er es nicht einmal der Mühe werth hielt, ein Wort an sie zu richten. Jane streifte mit einem vollen Zornesblick den Unverschämten und preßte dann die Lippen fest aufeinander, entschlossen, nun auch ihrerseits während des ganzen Weges kein Wort zu reden.

Ungefähr zehn Minuten waren sie so schweigend nebeneinander hingeschritten, als ihr Begleiter plötzlich stehen blieb und mit derselben leisen wohllautenden Stimme wie vorhin sagte: „Die Landstraße macht einen weiten Bogen. Darf ich Sie den näheren Weg führen, den ich zu gehen pflege?“

„Ich habe mich Ihrer Führung anvertraut,“ gab Jane kurz und kalt zur Antwort, und mit einer zweiten stummen Verneigung lenkte er von der Chaussee ab und schlug die Richtung nach links ein.

Der bezeichnete Weg mochte nun allerdings näher und für einen Mann auch zur Noth passirbar sein, für eine Dame war er aber jedenfalls nicht geeignet. Es ging über sumpfigen Boden, durch nasse Wiesen, durch tropfende Hecken, immer mitten durch die Felder und Gebüsche, nicht allein zum Nachtheil, sondern zum völligen Ruin von Jane’s eleganter Trauerkleidung, die allerdings für die Reise, aber jedenfalls nur für eine Reise in der Extrapostchaise berechnet war. Das leichte Mäntelchen vermochte sie so wenig zu schützen wie die feinen Stiefelchen, ihr Anzug war völlig durchnäßt, während ihr Begleiter, ganz in einen dichten wollenen Plaid gehüllt, die Witterung kaum zu empfinden schien und natürlich nicht daran dachte, ihr diesen Schutz dagegen anzubieten. Dabei schien er die Weisung Mr. Atkins’, den Gang möglichst zu beschleunigen, buchstäblich zu nehmen, denn er eilte in einem Schritte vorwärts, daß Jane die größte Anstrengung nöthig hatte, um an seiner Seite zu bleiben. Jede Andere hätte wahrscheinlich erklärt, daß dieser Weg und dieser Lauf über ihre Kräfte gingen. Miß Forest hatte sich nun aber einmal vorgenommen, die Stadt möglichst schnell zu erreichen, um den Zurückgebliebenen Hülfe senden zu können, und Klagen und Zögern war dabei ihre Sache nicht. Sie zog daher ihre Schuhe tapfer immer auf’s Neue aus dem Sumpf und Moor, der große Neigung zeigte, sie festzuhalten, setzte den Fuß energisch in das hohe feuchte Gras und riß ihren Schleier immer wieder von den Hecken los, an denen er hängen blieb; dabei ward ihre Miene aber immer finsterer, und als es eine Viertelstunde in dieser Weise fortgegangen war, blieb sie plötzlich stehen.

„Ich muß Sie bitten, zu warten. Ich bedarf einen Augenblick der Erholung.“

Diese im schärfsten Tone gesprochenen Worte schienen ihrem Begleiter denn doch das Bewußtsein seiner Rücksichtslosigkeit wachzurufen. Er blieb stehen und blickte erschreckt auf seine Schutzbefohlene, die erschöpft und völlig athemlos am Saume einer großen Fliederhecke stand.

„Verzeihung, Miß! Ich hatte ganz vergessen, ich –“ er stockte und fuhr dann entschuldigend fort: „ich bin wirklich nicht gewohnt, mit Damen zu verkehren.“

Jane machte eine Bewegung, als wollte sie sagen: „Das habe ich erfahren!“

Ihr Begleiter schien jetzt erst den Zustand ihrer Toilette zu gewahren. „Mein Gott, Sie sind ja ganz durchnäßt!“ rief er besorgt, blickte dann nach oben und setzte in sichtlicher Verwirrung hinzu: „Ich glaube, es regnet!“

„Ich glaube auch!“ sagte Jane mit einer Ironie, die zum Glück dem Fremden entging, denn er blickte sich suchend um. Sie standen jetzt Beide an der Fliederhecke, die sich auf einem Erdwall erhob, welcher allerdings nach einem mehrstündigen Regen keinen besonders einladenden Ruheplatz bot, dennoch schien ihr Führer ihn dafür zu halten. Er riß mit einer hastigen Bewegung seinen Plaid von den Schultern, legte ihn sorgfältig ausgebreitet auf die feuchte Erde und lud seine Schutzbefohlene mit einer Handbewegung ein, darauf Platz zu nehmen.

Jane blieb stehen und sah ihn an. Das überstieg denn doch wirklich alle Begriffe: dieser Mann hatte eine halbe Stunde lang mit der gleichgültigsten Miene von der Welt zugesehen, wie sie völlig durchnäßt ward, und jetzt warf er das Tuch, das sie während der ganzen Zeit hätte schützen können, ohne weiteres in den Schlamm, um ihr auf zwei Minuten einen Ruhesitz zu ermöglichen. Etwas Lächerlicheres und Unpraktischeres war ihr noch niemals vorgekommen, und trotzdem lag in der Bemühung eine so ängstliche Sorgfalt, eine so schüchterne Abbitte der vorherigen Rücksichtslosigkeit, daß Jane fast unwillkürlich der Einladung folgte und sich zögernd niederließ.

Zum ersten Male blickte sie jetzt mit voller Aufmerksamkeit auf ihren Begleiter, der dicht neben ihr stand. Er hatte, gleichfalls erhitzt vom raschen Gange, den Hut abgenommen und strich sich das blonde regenfeuchte Haar von der hohen Stirn. Es waren edle, feine, im höchsten Grade durchgeistigte Züge, auf denen jedoch eine durchsichtige, krankhafte Blässe lag, und dazu diese großen blauen Augen mit dem seltsam träumenden Ausdruck, die da aussahen, als hätten sie so gar nichts mit der Welt und der Gegenwart zu thun, als blickten sie weit darüber hinaus in unendliche Fernen – die junge Dame mit dem kalten schönen Antlitz und dem energisch stolzen Blick beobachtete mit einem eigenthümlichen, ihr selbst unerklärlichen Interesse dies von dem ihrigen so unendlich verschiedene Gesicht.

Ringsum braute der Nebel und wob seine grauen Schleier um Bäume und Gebüsche, die undeutlich, schattenhaft daraus hervorblickten, leise rieselte der Regen nieder, der erste warme Frühlingsregen, dem die ganze Erde entgegenzuathmen schien, mit einem feuchten würzigen Hauch, leise zogen durch die Luft jene seltsamen Stimmen, jenes Flüstern und Hallen, das nur der Regenlandschaft eigen ist, und durch das Nebelgeriesel tönte fern und geheimnißvoll das Wallen und Rauschen des noch immer unsichtbaren Stromes – die ganze Situation hatte etwas Fremdartiges, etwas Beklemmendes, und Jane, der diese Empfindung völlig neu war, riß sich rasch davon los.

„Ist das der Fluß dort unten?“ fragte sie in den Nebel zeigend.

„Der Rhein! Wir sind am Ufer desselben.“

Wieder eine Pause, Miß Forest brach ungeduldig einen Zweig von der Fliederhecke, betrachtete einen Moment lang zerstreut die aufspringenden Knospen, aus denen soeben das erste Grün hervorbrach, und warf ihn dann achtlos zu Boden. Ihr Begleiter bückte sich danach und hob ihn auf; sie blickte ihn befremdet an.

„Es sind die ersten Frühlingsknospen,“ sagte er leise, „ich möchte sie doch nicht im Schlamm umkommen sehen.“

Jane’s Lippen zuckten spöttisch. Wie sentimental! Aber freilich, sie befand sich ja in Deutschland! Verstimmt und fast gereizt durch den indirecten Vorwurf erhob sich die junge Dame plötzlich und erklärte völlig ausgeruht zu sein.

Ihr Begleiter war sofort zum Gehen bereit, Jane warf einen halben Blick auf den noch immer am Boden liegenden Plaid, da er ihn aber gänzlich vergessen zu haben schien, so hielt sie es nicht der Mühe werth, ihn mit einem Worte daran zu erinnern. Sie schritten also vorwärts, ebenso wortlos wie vorhin, nur daß der Führer jetzt seinen Schritt mäßigte, und sich oft besorgt umsah, ob sie auch zu folgen vermöge. Wieder eine Viertelstunde war vergangen, da tauchten die Umrisse von Häusern und Thürmen aus dem Nebel auf, und der Fremde wandte sich zu seiner Schutzbefohlenen.

„Wir sind in B. Darf ich fragen, Miß, wohin ich Sie führen soll?“

„Nach dem Hause des Doctor Stephan.“

Er blieb überrascht stehen. „Doctor Stephan?“

„Ja! Sie kennen ihn?“

„Allerdings. Ich wohne in seinem Hause, und in der That,“ er fuhr nachdenkend mit der Hand über die Stirn, „ich erinnere mich dunkel, gehört zu haben, daß man Jemand dort erwartet, eine junge Anverwandte, glaube ich.“

„Ich werde allerdings erwartet,“ sagte Jane ungeduldig, „und Sie würden mich verbinden, wenn Sie dies Warten meiner Verwandten möglichst abkürzen wollten.“

„Wie Sie befehlen, Miß! Darf ich bitten, sich rechts zu wenden, ich führe Sie den nächsten Weg durch den Garten.“

Jane folgte, aber sie fand bald genug Gelegenheit, diese „nächsten Wege“ ihres Begleiters zu verwünschen, denn der Heckengang zwischen Gärten hindurch, den er sie jetzt führte, übertraf an Bodenlosigkeit und Beschwerlichkeit noch den vorhergehenden.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_243.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)