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verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

von Orleans meinen Augen entschwunden waren und der „Wald von Orleans“, aus dem so manche Todeskugel unsere Braven getroffen hatte, zur Rechten die Ebene begrenzte, machte ich mit Dr. St. einen Gang durch die Krankenwagen. Sie beherbergten hundertzweiundneunzig Mann, darunter zwanzig Hessen, sechzig Baiern, die Uebrigen waren Norddeutsche; in drei Wagen lagen dreißig Officiere beisammen. – Den schlimmsten Anblick boten, natürlich nur während des Verbindens, die Amputirten. Es waren deren siebenundfünfzig, und zwar kamen zweiundvierzig nur mit einem Bein und fünfzehn nur mit einem Arm aus dem Kriege heim. Sie waren aber fast durchweg die Heitersten im ganzen Zuge, denn da ihre Wunden der Heilung zuschritten, so plagte sie nichts als ein ungeheurer Appetit, der ihnen reichlich gestillt werden konnte. Von den Uebrigen trugen die Meisten schwere Schußwunden und Kopfverletzungen durch Granatsplitter. Die Stillsten waren die durch Bajonnetstiche in die Brust Verwundeten; von ihnen hatten sich mehrere aufgelegen. Diese vor Allen trieb die Sehnsucht in die Heimath, wo mancher sein frühes Grab finden wird. Einige lagen in Folge des Typhus im höchsten Grade der Erschöpfung da und andere litten noch schwer am Gelenkrheumatismus. Am bejammernswürdigsten waren zwei bairische Artilleristen, die in der Hitze des Kampfs dasselbe Geschick erreicht hatte: das Versehen, ihre Hinterlader nicht gehörig zu schließen, hatte verursacht, daß die Pulverentladung ihnen Hände und Gesicht verbrannte. Einer davon war bereits erblindet, der Andere dem Erblinden nahe, und welch’ gräßlichen Anblick boten diese Köpfe! – Ein Paar der Kranken mußten unterwegs wieder in Lazarethen untergebracht werden, weil sie das Fahren noch nicht vertragen konnten. Diese traurigen Ausnahmen abgerechnet, herrschte durch alle Wagen ein heiterer Geist, der Einem in dieser Umgebung außerordentlich wohl that.

Die erste Nacht verbrachten wir in Corbeil, wohin von Chaumont am selben Tage der Sitz der deutschen Eisenbahnbetriebs-Commission über die Bahnstrecke von Tours bis Blesme verlegt worden war. Hier gab’s zum bestellten Abendessen auch Bier. War das eine Lust, zu sehen, wie besonders unsere Süddeutschen nach so langer Entbehrung das erste Glas des geliebten Labsals an den Mund setzten! – Am Morgen begleitete ich Dr. St. beim Verbinden. Gleich im ersten Wagen fragte er den im untern Bett links liegenden Baiern: „Nun, wo fehlt’s?“ Da hebt der die Decke weg und zeigt statt des rechten Beins ein kurzes Stummelchen. „Armer Mann!“ fuhr’s mir heraus. Er aber meinte: „’s ist allweil besser so, als gar nit heimkumme.“ Bei der Abnahme des Verbandes staunte ich über den Haufen Charpie, der aus der Umhüllung der Wunde hervorquoll, bis endlich der Knochen mit seiner Fleischumgebung bloß lag. Im Bette über diesem Leidensgefährten streckte sich ein hessischer Jäger, ein hübscher junger Mann, dem der linke Fuß fehlte, der aber in dem Eisernen Kreuz auf seiner Brust vollen Ersatz dafür gefunden zu haben schien, denn auch er begegnete meiner bedauernden Miene mit den Worten: „Mancher gäbet alle zwoi Boin’ drum her, wenn er das Kreuzche da derfür haben kunnt’.“ – Ihm lächelte gegenüber ein Armloser zu, d. h. er hatte den linken Arm verloren und die rechte Hand war schwer verletzt; er war damit einverstanden und meinte: „Es wird halt immer besser, je näher es der Heimath geht.“ – Auf[WS 1] seinem Parterrebette – die Soldaten nannten scherzweise die unteren Lager so zum Unterschied von denen „zum ersten Stock“, den oberen – saß ein durch die Brust Geschossener; er sah recht elend aus, aber den ganzen Tag leuchtete die Freude aus seinen Augen, weil ihm das Sitzen so wohl that.

Aehnliches wiederholte sich in allen Wagen; in allen aber war es schade, daß nicht ein Stenograph die Mittheilungen der Erlebnisse niederschreiben konnte, mit denen die Leute sich die Zeit verkürzten und versüßten. Während man in einem Wagen den Erzählungen zuhörte, wie viel versäumte man da in den übrigen neunzehn Wagen! So viel ich übrigens erhorchen konnte, sprach man durchweg weniger von den Gefechten und Verwundungen, als von den furchtbaren Strapazen der Wintermärsche, den Leiden nach den Kämpfen und den Racheacten gegen die Franctireurs, gegen welche namentlich die Baiern in Haß glühten. Sie hatten besonders in den Loirekämpfen entsetzlich gelitten. Officiere, welche drei Tage später über die Schlachtfelder ritten, fanden noch von Mann und Roß Todte und Verwundete am Wege liegen. Den furchtbarsten Eindruck hatte diesen abgehärteten Männern der Anblick in einem Schlosse bei Blois gemacht. Es war ein erster Zufluchtsort der Verwundeten gewesen und mußte eiligst geräumt werden, um als Einquartierungsplatz zu dienen. Man fand nicht nur alle Räume hoch mit Stroh und Schmutz bedeckt, als man den Unrath wegschaffte, fand man unter denselben nicht nur eine Anzahl Leichen und Arme und Beine von Amputirten liegen, sondern auch noch mehrere Verwundete! – Ein baierischer Jäger des Zugs behauptete, daß er Einer dieser Verwundeten sei. Er erzählte, er sei zweimal gefunden worden, das erste Mal auf dem Schlachtfelde, wo er schon ganz erstarrt gewesen, das zweite Mal in einem großen Hause, wo er mit einigen hundert oder gar tausend Verwundeten zusammen gelegen. „Ich lag in einer Flur, so groß wie ein Saal, und mitten inne stand ein Tisch, auf welchem die Doctoren immer ihrer etliche Mann zugleich unter’m Messer hatten. Und wie ich nun sah, wie bald ein Stück Arm, bald ein Fuß oder gar ein Bein von dem Tisch herunterflog auf den Boden, und hörte das Mordgeschrei, da bekam ich eine Angst wie in meinem ganzen Leben noch nicht. Ohne zu wissen, was ich that, riß ich mit beiden Händen alles Stroh und Heu an mich, das ich erreichen konnte, und schob es über mich, um mich vor den Doctoren zu verbergen. Das muß mir nicht schlecht gelungen sein, denn als man plötzlich alle Verwundeten wieder auspackte, und weiterschaffte, wartete ich vergeblich auf’s Wiederkommen der Krankenträger. Sie hatten mich nicht gesehen, oder für todt gehalten, und da lag ich in meinem Elend und schrie aus Leibeskräften, aber es war zu spät. Ich fühlte nach links und rechts und spürte nichts, aufrichten konnte ich mich nicht, warm lag ich wohl, aber so einsam, so schrecklich einsam, und es kam die Nacht. Ich muß endlich eingeschlafen oder ohnmächtig worden sein, denn ich kam erst wieder zu mir, als ich einen Stoß verspürte und mit dem Haufen Stroh und Schmutz über mir mit fortgeschoben wurde. Da raffte ich noch einmal alle Leibeskraft zusammen zu einem Schrei, den ich selber mein Lebtag nicht vergesse. Und da haspelten sie mich aus dem Unrath heraus, nicht schlecht verwundert, und meinten: Nu wär’s klar, warum der Dreck so schwer gewesen sei. So bin ich zum zweiten Mal gefunden worden und verlang’s kein drittes Mal zu erleben. Wegen dem Bein hat’s Verstecken freilich nichts geholfen, das ist doch weg, aber ich bin noch da.“

„Da kommt sie!“ rief ein Krankenwärter, durch den Wagen rennend.

„Was denn?“

„Die gesprengte Brücke!“

Ich eilte vor die Thür auf die Plattform. Richtig, da flatterte, noch weit in der Ferne, die schwarze Fahne bei der verdächtigen Stelle. Aus dem nächsten Wagen trat die Diakonissin, Schwester Gertrud, heraus und rief: „Ach, wenn nur nichts geschieht! Ich habe kein Bangen um mich, aber um diese armen Menschen da drinnen!“

Sie sprach auch mein Gefühl aus, die brave Schwester. Wir waren herwärts über vier solcher Nothbrücken gefahren, und damals hatte sogar der Wagenzugführer gestanden, der Anblick sei so schauerlich gewesen, daß er die Augen davor habe zudrücken müssen; ich war ruhig geblieben. Aber jetzt kam auch mir der Gedanke: wenn die Balken die Last nicht tragen, was wird aus all den hülflosen Verwundeten! – Indeß donnerten bereits die ersten Wagen darüber, und nun kamen auch wir daran, wir schauten durch die Balkenlage hinab in die brausende Yonne – und überstanden war’s, drüben lag La Rochelle, der für den Franctireursfrevel des 25. Januar hart gestrafte Ort, und vor uns lag die Aussicht, am kommenden Tage noch fünf solcher Brücken zu überfahren.

Schwester Gertrud war seelenfroh und erzählte mir von mancher ähnlichen Gefahr, die sie erlebt. Sie hat, trotz ihrer Jugend, schon eine reiche Vergangenheit ihres Wirkens hinter sich. Ihre Erlebnisse während der Typhusnoth in Preußen, im Kriege von Sechsundsechszig, wo ein von ihr verbundener Österreicher sie zum Dank dafür durch einen Pistolenschuß verwundete, und im jetzigen Kriege, wo sie unter Anderen durch ihre nimmermüde Sorge einem Officier das Leben gerettet – „und er hat sich nicht einmal dafür bedankt“ – das Alles verdiente erzählt zu werden; aber wie noch so Manches, das zu dieser Fahrt gehört, muß auch dies für mein Reisebuch bei Seite gelegt werden.

Es war wieder Abend geworden und ich hatte eine Einladung

Anmerkungen (Wikisource)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1871, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_247.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)