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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Die kleinen grauen Augen des Doctors glänzten in einer eigenthümlichen Schadenfreude, als er zu dem Amerikaner hinüberblickte. „Wirklich? Meinen Sie das? – Hast Du den Aufruf gelesen, Jane, der heute in der – Zeitung steht?“

„Ja!“ sagte Jane rasch, mit einer plötzlichen Spannung das Auge zu dem Oheim emporhebend.

„Sie auch, Mr. Atkins?“

„Die Brandrakete, die heute Morgen die gute Stadt B. und wahrscheinlich noch einige hundert andere Städte in Feuer und Flammen setzte? Ja, Mr. Stephan, die haben wir gelesen!“

„Das freut mich; die ‚Brandrakete‘ kam aus meinem Hause – der Artikel ist vom Professor Fernow!“

Jane zuckte zusammen; sie ließ das Blatt fallen, als habe sie auf einmal glühendes Eisen in der Hand. Mr. Atkins dagegen fuhr von seinem Stuhle auf, stand einen Augenblick kerzengerade da und setzte sich dann ebenso plötzlich wieder nieder.

„Das ist nicht möglich!“ sagte er kurz.

„Nun, das habe ich heute schon mindestens dreißig Mal gehört!“ triumphirte der Doctor, ohne sich im Geringsten beleidigt zu fühlen. „Unmöglich! schrie mir Alles entgegen. Ich hätte es selber nicht geglaubt, wenn mir nicht die Ungeschicklichkeit Friedrichs, der den Artikel heimlich in die Druckerei tragen sollte, die Sache verrathen hätte. Natürlich wartete ich erst die Wirkung ab und gab dann mein Geheimniß allen vier Wänden preis. Das hat erst recht gezündet; in der Universität zumal schlug es ein wie eine Bombe. Der Professor kann sich auf einen Empfang gefaßt machen, wenn er zurückkehrt, und ich mich auf eine Scene mit ihm, denn er wird natürlich außer sich gerathen über meine Indiscretion. Pah! mich hat er nicht in’s Vertrauen gezogen, ich hatte kein Schweigen zu halten. Was sagst Du eigentlich zu der Geschichte, Jane?“

„Ich – Nichts!“ sagte Jane mit dem herbsten Tone und Ausdrucke, der ihr zu Gebote stand. Sie wendete sich ab, ging zum Fenster und preßte die Stirn gegen die Scheiben.

„Und Sie, Mr. Atkins?“

Der Gefragte legte sich resignirt in seinen Stuhl zurück.

„Ich warte auf Ihre weiteren Neuigkeiten, Mr. Stephan! Wollen Sie mir vielleicht noch mittheilen, daß Ihr Professor nächstens eine Batterie stürmen und sein Friedrich eine archäologische Vorlesung halten wird – schonen Sie mich durchaus nicht, ich bin jetzt auf Alles gefaßt, ich wundere mich über nichts mehr hier in Deutschland!“

Der Doctor lachte laut auf; plötzlich jedoch unterbrach er seine Heiterkeit und blickte besorgt hinaus.

„Was ist denn das? Da kommt ja Friedrich schon zurück, in solcher Eile! Was hat denn der Bursche? Er sieht ja ganz verstört aus!“

Es war wirklich Friedrich, der im vollen Laufschritt durch den Garten kam und in solcher Aufregung in’s Zimmer stürzte, daß selbst die Gegenwart der gefürchteten „amerikanischen Miß“ und ihres noch mehr gehaßten Begleiters ihn gar nicht kümmerte.

„Was giebt’s?“ rief der Doctor hastig. „Was hast Du, Friedrich? Es ist doch nichts passirt?“

„Ja!“ stotterte Friedrich athemlos. „Passirt ist etwas – der Herr Professor –“

„Ein Unglück? Wo denn? Auf der Bahn oder drüben in H.? So sprich doch!“ drängte der Arzt im vollen Ernste erschreckt.

„Drüben in H.!“ stieß Friedrich verzweiflungsvoll hervor. „Der Herr Professor – er muß auch mit in’s Feld – wir marschiren morgen!“

Die Wirkung dieser Worte war, für den Augenblick wenigstens, ein totales Stillschweigen. Jane hatte sich umgewendet und blickte den unglücklichen Boten an, als zweifle sie im vollen Ernst an seinem Verstande; der Doctor stand da wie vom Donner gerührt; nur Mr. Atkins sagte nach einer secundenlangen Pause halblaut:

„Jetzt fehlt wirklich nur noch die Vorlesung des Mr. Friedrich!“

„Aber sind denn meine Collegen vom Militär des Kukuks?“ brach jetzt der Doctor entrüstet los. „Professor Fernow für diensttauglich erklärt! Meinen Patienten, der mir seit drei Jahren zu schaffen macht! Wie in Himmels Namen ist denn das zugegangen?“

„Ich weiß nicht, wie es eigentlich kam,“ berichtete Friedrich, dem die Angst und Aufregung eine ganz ungewöhnliche Rednergabe lieh; „aber der Herr ist ja selber schuld daran! Ich stand ganz nahe bei ihm, da sah einer von den Doctoren ihn so von der Seite an, zuckte mit den Achseln und meinte: ‚Nun, mit Ihnen geht es doch wohl nicht. Sie können ja kaum ein Gewehr tragen!‘ Gott weiß, warum der Herr Professor das so übel nahm; er wurde auf einmal blutroth im ganzen Gesicht, gab dem Doctor einen Blick, daß der genug hatte, ging drei Schritte zurück und sagte ganz laut: ‚Ich bitte wenigstens um die Untersuchung!‘ ‚Wenn’s weiter nichts ist, das wollen wir besorgen!‘ meinte der Oberstabsarzt und kam selbst heran –“

„Der Oberstabsarzt ist’s gewesen!“ unterbrach ihn Stephan. „Das hätte ich mir denken können! Denn der nimmt Alles, was beim ersten Marsch in den Lazarethen liegen bleibt! Nun weiter!“

„Ja, nun hieß es nur: ‚Sind Sie irgendwie krank?‘ ‚Nein!‘ antwortete der Herr Professor und biß die Zähne zusammen, denn alle die Mannschaften sahen auf ihn hin. Dabei hatte er sich hoch aufgerichtet, noch immer feuerroth bis an die Stirn, und sah jetzt wirklich ganz und gar nicht krank aus. Der Oberstabsarzt befühlte ihn denn auch nur so ganz kurz und sagte dann: ‚Unsinn, College, wir können jetzt nicht so wählerisch sein; Brust und Lungen sind noch gesund, das Bischen Schwächlichkeit vom Stubensitzen muß sich geben – Sie werden genommen, Punctum!‘ Ich dachte, der Schlag sollte mich rühren, und der Herr Professor that einen Athemzug, als wollte ihm die Brust zerspringen.“

Der Doctor begann heftig im Zimmer auf und nieder zu gehen; jetzt aber mischte sich auch Atkins in’s Gespräch.

„Nehmen Sie es mir nicht übel, Mr. Stephan, aber das ist ein Geniestreich Ihres Herrn Collegen, der nahezu an Tollheit grenzt. Einen schwindsüchtigen Professor von seinem Katheder wegzunehmen, um ihn in das Heer einzureihen! Ein schöner Zuwachs!“

„Schwindsüchtig ist Fernow nicht!“ sagte der Doctor mit großer Bestimmtheit. „Das weiß mein College so gut wie ich, und sein Nervenleiden kann er ihm, zumal im Moment der Erregung, nicht so ohne Weiteres ansehen, dazu gehört längere Beobachtung. Seine Stellung schützt den Professor vollends nicht, er ist eben noch jung, genau so alt wie Friedrich. Hätte ich nur eine Ahnung von der Geschichte gehabt, ich hätte ja gern vorgebeugt und die nöthigen Winke gegeben, weiß Gott, ich konnte es hier mit gutem Gewissen, aber wer konnte denn das vorhersehen! Hier in B. wäre die Sache überhaupt nicht passirt – jetzt ist’s zu spät.“

„Aber, Herr Doctor“ – Friedrich blickte mit einer wahren Todesangst den Arzt an –, „der Herr Professor kann doch nicht mit ausmarschiren. Sie wissen ja, daß er keine Zugluft vertragen kann, und keine Hitze, und die Kälte auch nicht, daß für ihn ganz besonders gekocht werden muß, und daß er schon krank wurde, wenn er einmal ohne Regenschirm ausging. Lieber Gott, er stirbt uns ja in den ersten acht Tagen!“

„Nun, beruhige Dich nur!“ tröstete Stephan. „Wir wollen sehen, was sich thun läßt. Rückgängig kann die Sache allerdings nicht gemacht werden, aber vielleicht ist es durchzusetzen, daß Dein Herr zum leichtesten Dienst in irgend einem der Bureau- oder Verwaltungszweige verwendet wird. Ich werde die nöthigen Schritte dazu thun, vor allen Dingen aber muß ich ihn selbst sprechen. Er ist doch mit Dir zurückgekommen?“

„Ja!“ sagte Friedrich aufathmend. „Ich bin nur vorausgelaufen.“

„Nun, so geh’ und bringe vorläufig Deine eigenen Sachen in Ordnung. Sie wollen auch fort, Mr. Atkins?“

„Nur auf eine Viertelstunde – zur Abkühlung! Ich fühle wirklich das dringende Bedürfniß, mich zu überzeugen, ob es hier in B. noch irgend ein Ding giebt, das nicht auf dem Kopfe steht. Miß Forest scheint eine ähnliche Empfindung zu haben – darf ich um Ihre Begleitung bitten, Jane?“

„Ich – bin müde!“

Die junge Dame sank in den Lehnstuhl, stützte den Kopf in die Hand und entzog damit ihr Gesicht jeder ferneren Beobachtung.

„Jane ist heute merkwürdig übler Laune!“ sagte der Doctor draußen auf dem Balcon zu Atkins, dem er das Geleit gab. „Kaum ein Wort ist ihr abzugewinnen! Mir scheint sie überhaupt ganz verändert seit den letzten vierzehn Tagen. Kennen Sie die Ursache dieser fortwährenden Verstimmung?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_296.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)