Seite:Die Gartenlaube (1871) 407.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


zuckte über sein Antlitz. „Nein! Ich denke nur, wie gut es doch ist, daß ich jetzt sterbe. Sie hätten sich sonst gewiß meiner geschämt!“

Jane zuckte zusammen, der Vorwurf war gerecht. Hätte sie, als sie zuerst an den Rhein kam, den Diener Fernow’s als Bruder umarmen müssen; sie hätte sich bitter seiner geschämt. Welch eine Reihe von Kämpfen und Leiden, welch letztes furchtbares Opfer war nothwendig gewesen, um den Hochmuth aus ihrem Herzen zu reißen und dort Raum zu schaffen für das Gefühl, das jetzt nur allein darin noch herrschte, für die mächtig sich regende Stimme der Natur! Sie wußte jetzt nicht blos, sie fühlte es, daß es ihr Bruder war, der da vor ihr lag, der Einzige ihres Blutes und Namens, der Einzige, der ihr angehörte, durch die heiligen Bande der Familie, und Alles, was sie je mit ihrem herrischen Stolz an ihm und anderen gesündigt und verletzt, es ward zehnfach gestraft in diesem Augenblicke. Der Bruder hatte selbst im Moment des Wiedersehens nur die Erinnerung daran behalten – er bebte scheu zurück vor ihrer Umarmung.

Friedrich deutete ihr Schweigen falsch, und er mißverstand auch den Ausdruck ihres Gesichtes.

„Es wird schon so sein!“ sagte er ruhig, aber ohne alle Bitterkeit. „Sie sind nie freundlich zu mir gewesen, und gleich das erste Mal, als ich Sie sah, ich hatte mir solche Mühe gegeben mit all den Kränzen und Blumen – Sie wollten nicht eine einzige davon, und doch hat mir nie in meinem ganzen Leben etwas so wehe gethan, als wie Sie damals an mir vorbei gingen.“

Er schwieg, aber was all die Kämpfe und Qualen, all die Verzweiflung Jane nicht abzuzwingen vermocht, das vollbrachten diese einfachen Worte mit ihrem ergreifenden Weh, dessen sich Friedrich wohl nicht einmal recht bewußt war, ein heißer Thränenstrom stürzte aus ihren Augen; und sie verbarg das Gesicht in den Kissen. In diesem lauten herzzerreißenden Weinen brach endlich der kalte Hochmuth, mit dem sie bisher auf Alles herabgesehen, was ihr an Geist und Lebensstellung nicht ebenbürtig war, brach die starre Härte ihrer Natur, brach selbst die männliche Willenskraft, die der Vater in ihr geweckt und genährt hatte, sie weinte jetzt, wie ein Weib weint; in trostloser Angst und Verzweiflung, wenn es Alles um sich zusammenstürzen sieht – Jane Forest war nun einmal nicht zu beugen gewesen, sie mußte erst gebrochen werden.

Aber diese Thränen, die ersten seit ihrer Kinderzeit, drangen auch mächtig zu ihres Bruders Herzen und besiegten seine ängstliche Scheu vor ihr. Er sah jetzt auch, daß die Schwester sich seiner nicht mehr schämte, daß er sie tief gekränkt um seinem Verdachte, und mit der letzten Kraft wendete er sich ihr wieder zu.

„Hannchen!“ sagte er leise, und der alte liebe Name fiel halb scheu noch und halb zärtlich von seinen Lippen. „Sei mir nicht böse, liebes Hannchen! Es ist ja Alles gut, ich habe wenigstens Dich gerettet!“

Er streckte die Arme nach ihr aus, und die Lippen der Geschwister begegneten sich in dem ersten Kusse – es war auch der letzte! –

Als der neue Tag sein erstes mattes Licht über die Erde sandte, war Forest’s Sohn nicht mehr unter den Lebenden. Langsam ließ Jane die Leiche ihres Bruders aus den Armen und wandte das Antlitz dem Fenster zu; im Zimmer herrschte noch kalte graue Dämmerung, aber draußen flammte es bereits am Himmel auf, eben brach der Morgen blutigroth in die Berge – welches Opfer war dort gefallen?


Eine klare duftige Herbstnacht liegt über dem Gebirge, hell scheint der Mond herab und beleuchtet mit seinen geisterhaften Strahlen die Bergstraße; die dunkeln scharf begrenzten Linien der Berge heben sich so deutlich von dem lichten Nachthimmel ab, daß man jede Kluft, jede Felszacke davon unterscheidet. Höher hinauf verschwimmen die Wälder zu einer einzigen dunklen, formlosen Masse, auf der ein leichter weißer Nebel wie schimmernder Flor ruht, und an der hellbeschienenen Bergwand tritt jeder Baum, jedes Gebüsch klar hervor, wie im Tageslicht.

Auf dem niedrigen Felsplateau, am Eingange der Schlucht, dicht am Fuße der riesigen Tanne, die dort wurzelt, steht Henry. Er hat dem Gegner einen Vorsprung abgewonnen, hat den Weg offen gefunden; nichts von alledem, was sich eine Stunde später dort regte, ist ihm begegnet. Der Pflicht, der Rettung stellen sich so oft unübersteigliche Hindernisse entgegen, – das Verbrechen geht meist ungehemmt seinen Pfade, als schützten es dämonische Mächte.

Atkins’ Wort ist zur Wahrheit geworden, die unbändige Natur Henry’s kennt keine Grenze mehr, nun sie einmal ihre Schranken gebrochen; aber sie entfesselt sich nicht in wildem Toben, der Kopf des Amerikaners bleibt klar und kühl, es gilt neben der Rache an dem Verhaßten auch die Sorge für die eigene Sicherheit, und er hat sie gewahrt. Das Gebirge ist unsicher, das weiß Jeder, und der deutsche Officier, der am Morgen todt gefunden wird, ist von der Kugel eines Franctireurs gefallen; das kommt oft vor im Kriege, warum wagte sich der Tollkopf auch zur Nachtzeit allein in’s Gebirge! Die Posten halten alle Eingänge besetzt, sie haben Niemand gesehen, und Henry, der auf seinem Wege zurückkehrt, hat den Umkreis des Parkes nicht verlassen.

Die Entdeckung ist unmöglich und dies Bewußtsein vermehrt noch die kalte entschlossene Ruhe des Amerikaners, die durch keine Schranken und keine Gewissensscrupel gestört wird. Er giebt sich in der That nicht mit „idealen Zweifeln“ über das Recht oder Unrecht seines Vorhabens ab, er hat dem Gegner den Kampf auf gleich und gleich geboten, und war bereit, sein eigenes Leben auf’s Spiel zu setzen, Jener wollte nicht, wohlan – auf sein Haupt die Folgen!

Der Standpunkt konnte nicht besser gewählt sein, Henry steht tief im Schatten der Felswand, am Fuß der Tanne, völlig gedeckt durch ihre Zweige, dicht unter ihm zieht sich die Bergstraße und der Fußweg hin, er beherrscht beide mit Blick und Waffe, kein menschliches Wesen, das in der Richtung von S. her kommt, kann ihm entgehen, und Henry’s Waffe fehlt ihr Ziel niemals, seine Geschicklichkeit im Schießen ist von jeher die Bewunderung seiner Umgebung gewesen. Er wartet, das Auge unverwandt auf die Windung der Straße gerichtet, in der Walther erscheinen muß; alle seine Seelenkräfte drängen sich zusammen in diesem athemlosen Spähen und Lauschen, es kümmert ihn nicht, was hinter seinem Rücken, was ihm zur Seite geschieht, und er hört nicht das leise, unheimliche Rauschen in den Tannen drüben.

Tiefes Schweigen im Gebirge! Nur bisweilen tönt der Schrei eines Raubvogels durch die Luft, der in schwerem, langsamem Fluge über den Wald hinstreift und in seinem Dunkel verschwindet. Bisweilen fährt ein Windstoß über die Felswand hin und dann schwanken die Wipfel der Bäume auf und nieder, dann wehen und winken die Gesträuche im Mondlicht, dann knarren die Aeste der Tanne leise und unheimlich, als wollten sie weinen oder klagen. –

Da endlich! In der Windung des Weges taucht eine dunkle Gestalt auf und kommt näher, langsam, aber festen Schrittes. Henry erkennt deutlich den Gang und die Haltung Walther’s, erkennt jetzt auch seine Züge, er hat bereits das Felsplateau erreicht und ist im Begriff, den Weg zu betreten, der hinaufführt, langsam hebt der Amerikaner den Revolver.

Da auf einmal Schüsse von der andern Seite, aus dem Tannendunkel jenseit der Bergstraße stürzen fremde Gestalten und werfen sich auf den Deutschen, entschlossen springt dieser seitwärts und giebt gleichfalls Feuer; aber das scheucht nur augenblicklich den Feind zurück, der das Bewußtsein seiner Ueberzahl hat, Walther wird an den Fels gedrängt und in einem Nu ist er umringt von allen Seiten.

Henry steht regungslos, die Waffe noch schußfertig in der Hand, und blickt auf das blutige Schauspiel zu seinen Füßen, noch steht Walther aufrecht an die Felswand gelehnt, aber das Blut rieselt bereits über seine Stirn herab, und er vertheidigt sich nur noch mit dem Degen. Es liegt den Feinden augenscheinlich daran, ihn lebend zu überwältigen, nicht ein Einziger macht mehr Gebrauch von seiner Büchse; da er im Rücken gedeckt ist, so suchen sie ihn von vorn und von der Seite niederzureißen, im nächsten Moment wird es geschehen sein.

Henry sieht das und er sieht auch, daß ihm die schreckliche That erspart bleibt, er braucht dies Leben nicht mehr zu nehmen, es ist ohnedies verfallen, denn Walther ergiebt sich nicht. Sechs gegen Einen! Seltsam, der Gedanke schießt auf einmal mit heißer, wilder Scham durch die Seele des Amerikaners, er wollte den Mord begehen mit fester Hand, aber unthätig zusehen, wie

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 407. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_407.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)