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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Ich weiß.[1]

Ich weiß es, deine frommen Augen lügen,
Und was so stolz von deiner Stirne thront,
Als Lüge wandelt es in deinen Zügen,
In deinem Herzen hat es nie gewohnt.

Ich weiß, ich weiß, dein Lächeln kindeshelle
Ist nur ein Lichtstrahl, der auf dir erfror,
Und deiner Locken spielgehobn’e Welle
Verbirgt ein heimlich sündenhorchend Ohr.

Und ob die Scham dir weilet auf der Wange,
In seiner keuschen Hülle ungesehn
Regt sich dein Leib wie eine weiße Schlange,
Und du bist schlecht, ich weiß, doch du bist schön!

Ich will den goldnen Schleier nimmer heben,
Der deiner Seele schwarze Nacht verdeckt,
Und den das Licht erröthend dir gegeben,
Damit dein nacktes Herz sich drin versteckt.

Ich will in deinen Zügen gläubig lesen
Der Schönheit ew’ges himmlisches Gedicht
Und will versuchen drüber zu vergessen,
Daß Gott dir mehr gab als ein Angesicht.


  1. Aus dem poetischen Nachlasse des Freiherrn Karl von Fircks.
    D. Red.

Die stumme Signora.
Erinnerungsblatt aus der Mappe eines ehemaligen Leipziger Studenten.
Von Karl Wartenburg.
1.

Eine der interessantesten Straßen Leipzigs ist der Brühl mit seinen zahllosen Gasthöfen zweiten und dritten Ranges, seinen Trödlerläden und polnischen Juden, und zu den interessantesten Häusern in diesem alten Brühl gehörte im Anfang der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts der blaue Karpfen oder die Rauchwaarenhalle, ein großes weitläufiges Gebäude mit einem tiefen düsteren Hof. Das Haus liegt fast unmittelbar neben der altbekannten jüdischen Garküche „zum Tiger“ und war zu jener Zeit eine Art Karawanserai, in welchem Leute aus aller Herrn Länder Unterkommen suchten und fanden. Besonders beliebt war die Rauchwaarenhalle als Absteigequartier der polnischen Israeliten. Doch nicht nur Bekenner des alten Testamentes, auch Christen aller Glaubensbekenntnisse logirten in dem Hause, dessen erste vordere Etage mit dem linken Seitenflügel im Hofe ein Restaurateur gepachtet hatte, der die Menge der kleinen Zimmer an Fremde vermiethete. Aber ich muß gestehen, daß abgesehen von der Religion auch noch ein anderer großer Unterschied zwischen den jüdischen und christlichen Miethswohnern, die in der Rauchwaarenhalle hausten, bestand. Die polnischen Juden, die dort einkehrten, waren zwar alle in ihrer äußeren Erscheinung nicht sehr elegant, aber sonst wohlgestellte Leute mit vollen Geldkatzen, während meine christlichen Glaubensgenossen oft nicht viel properer in ihrem äußeren Menschen, aber in der Regel bedeutend zahlungsunfähiger waren. Die Mehrzahl waren höhere Vagabonden, überfirnißte Bummler, verkommene Künstler, engagementslose, verlüderte Schauspieler dritten und vierten Ranges, Spieler von Profession, oft noch zweifelhaftere Existenzen. Alle diese Herrschaften machten keine Ansprüche auf großen Comfort, sondern sahen vielmehr auf eine wohlfeile Miethe und eine gewisse Verborgenheit, die sie hier auch genossen. Die Leipziger Polizei, die damals von dem Hofrath Stengel geleitet wurde, schien die Rauchwaarenhalle als eine Art Freihafen zu betrachten, in welchem sie den schiffbrüchigen Passagieren des Lebens das Einlaufen und ruhigen Aufenthalt gestattete – vielleicht aus höheren polizeilichen Rücksichten. Giebt es ja auch in anderen Großstädten solche Sammelpunkte der verlorenen Kinder, welche von den Sicherheitsbehörden genau gekannt sind, aber geduldet werden, weil sie unter Umständen sehr nützlich für criminalpolizeiliche Zwecke sind.

Die respectabelsten Hausgenossen in diesem Flügel der Rauchwaarenhalle waren unstreitig wir Drei: mein Stubenbursche Georg Alt aus Coburg, Student der Medicin, ich und mein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 481. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_481.jpg&oldid=- (Version vom 1.10.2017)