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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


zweimal rollten die Sechs- und Vierspänner mit den von Seiden- und Gazewolken umflossenen Majestäten, kaiserlichen, königlichen und simplen Hoheiten vorbei; zweimal konnten wir Kaiser Wilhelm bejubeln, den erhabenen Greis mit dem sympathischen Gesicht und der jugendlichen Haltung, zweimal die schöne, kraftvolle Kriegergestalt des Kronprinzen bewundern, der seinen sammetumwundenen Marschallstab fort und fort so graciös und huldvoll zum Gruße senkte, während Prinz Friedrich Karl mit dem wettergebräunten Antlitz neben ihm so auffallend ernst auf die ihm zujauchzende Menge hinabschaute und den salutirenden Damen drüben auf der großen Magistratstribüne kaum einen Blick gönnte; zweimal dem Reichskanzler, der mit der ihm eigenthümlichen scherzhaften Galanterie die ihm zugeworfenen Bouquets und Kränze in die Damentribünen hineinschleuderte, und seinem Nebenmann, dem „großen Schweiger“, huldigen, dessen feste Lippen heute aber doch ein gar freundliches Lächeln umspielte – kurz, zweimal ward uns der Anblick der großen Kaisersuite mit ihrer Uniformen- und Ordens- und Rossepracht, mit ihren Prinzen und Fürsten, ihren Feldmarschällen und Generälen ihren Flügel- und Generaladjutanten, ihren Johanniter- und Malteserrittern, ihren Stabsofficieren und Generalärzten zu Theil.

Man braucht nicht Militär, auch nicht einmal absonderlicher Mililärfreund zu sein, um den Eindruck dieser Pracht geradezu für überwältigend zu erklären. Wie eine Zaubererscheinung schwebte die glanzvolle Procession an uns vorüber, und gewiß Jeder bedauerte, daß der brillante Zug den staunenden Blicken so schnell entschwand. Mit ihm erschöpfte sich indessen auch das äußere Interesse an dem officiellen Schauspiele. Was nun folgte, der endlose Einmarsch der verschiedenen Regimenter, von denen, wenigstens für das nicht militärische Auge, im Allgemeinen eines immer aussah wie das andere, war in hohem Grade ermüdend für die einer unbarmherzig herabbrennenden Sonne ausgesetzten Zuschauer, wie er eine peinliche Anstrengung für die triumphirenden Krieger gewesen ist, von denen mehrere leider diesen ihren Ruhm- und Ehrentag mit dem Leben büßen mußten, nachdem sie aus so vielen mörderischen Schlachten unverletzt heimgekehrt waren. Daß dieser bittere Tropfen dem großen Freudenbecher des Tages nicht fern gehalten werden konnte, bleibt schmerzlich zu beklagen!

Nach dem Vorbeimarsch der Suite dachten wir unsern Tribünenplatz zu verlassen, um, durch dem Festzuge abgewandte Straßen eilend, unsere Beobachtungen Unter den Linden fortzusetzen; allein die findigen Berliner um uns her boten so mannigfaltige Gelegenheit zu Volksstudien dar, daß wir uns für’s Erste auf unserem Stuhle noch festhalten ließen. Eben schwirrten die „Maikäfer“ von links heran, da erhob sich, um ihre Lieblinge besser beaugenscheinigen zu können, eine unserer Nachbarinnen von ihrem Platze. „Sitzen bleiben!“ befahlen die Hintermänner sofort; „sitzen bleiben, Sie da, A. F. Nr. 16!“ Die Schaulustige hatte nämlich ihr Taschentuch über den Kopf gelegt, um sich vor der glühenden Sonne zu schützen, und unter den Merkzeichen ihres Tuches ward nun die in ihrem Patriotismus gegen die Höflichkeit Fehlende zur Ordnung gerufen. Aehnliche Berliner Geistesblitze gaben noch mancherlei Stoff zur Erheiterung, bis schließlich die einzelnen Unternehmer unserer Plattform sich über deren Erträgniß in die Haare geriethen und einer derselben, welcher die Stühle geliefert und dafür kein genügendes Aequivalent empfangen haben wollte, mit kurzem Proceß sein Eigenthum reclamirte und uns ohne Weiteres entthronte.

Dergleichen improvisirte Schauempore hatte übrigens die Siegesstraße eine Menge aufzuweisen: Handwagen, Hökerkarren, Fässer und Kisten, und dies Alles mußte, an passenden Stellen aufgebaut, als Tribüne dienen, und alle solche Speculanten machten blühende Geschäfte. Ebenso die improvisirten und ambulanten Restaurationen, die sich neben ihnen etablirten. Unsere Estrade ward in regelmäßigen Intervallen von einem vierschrötigen Gesellen besucht, welcher in einem großen Pferdeeimer Wasser, in einem ditto Gefäße Himbeersaft feilbot und, das Glas des also gemischten Trankes zu fünf Silbergroschen verkaufend, sich eines reißenden Absatzes erfreute. Wie kolossal der Verbrauch von durstlöschenden Mitteln von Seiten des schaulustigen Publicums überhaupt gewesen ist, mögen ein paar authentische Ziffern beweisen. Die Restauration der in der Königgrätzer Straße errichteten Victoriatribüne war für fünfundzwanzig Thaler verpachtet worden. Der Pächter aber schenkte in einer einzigen Stunde fünfundzwanzig Eimer Limonade, jedes Glas zu fünf Silbergroschen, und gleichzeitig zehn Tonnen Lagerbier aus, das Seidel zu zwei und einem halben Groschen. Aus dem letztern Getränke allein erzielte er mithin einen Reingewinn von hundertfünfzig Thalern. Von der Tribüne C am Pariser Platze wurden, außer Selterserwasser etc., siebenzehn Tonnen Bier consumirt, wodurch dem Erfrischungspächter ein Gewinn von mehr als dreihundert Thalern erwuchs!

Nach einigen verunglückten Anläufen drangen wir endlich durch die Friedrichsstraße glücklich bis nach den Linden vor und eroberten uns mit Todesverachtung einen Sessel auf Kranzler’s Perron, im Augenblick, als die reitende Garde-Artillerie im Trabe vorüberdefilirte, so daß ringsum die Erde bebte. Wer aber waren auf dieser süßen Tribüne unsere Nachbarn? Zwei französische Officiere, die, jedenfalls aus irgend einer preußischen Festung entlassen und auf dem Rückwege nach der Heimath begriffen, ehrlos genug waren, sich, bei einer Schale Eis, einen Triumphzug zu begaffen, welcher für ihre Nation ein Moment der tiefsten Demüthigung bezeichnet und die französische Gloire, dies Wahnbild ihrer Eitelkeit, wer weiß, für immer ausgelöscht hat. Bedarf es eines Commentars zu diesem neuen „Beitrage zur Völker-Psychologie“?

Sollen wir noch die festliche Erleuchtung schildern, die den blendenden Schlußact des großartigen Tages ausmachte? Wir meinen, nein – dergleichen Lichteffecte sind für Feder und Stift gleich undarstellbar. Wir können es aber auch einfach nicht, weil wir, abgehetzt und abgespannt bis zum Umsinken, fast theilnahmlos durch das gas- und lampenumschimmerte Menschenchaos zogen und nach dem Nachtlager in unserm stillen Vorstadtquartiere trachteten, nachdem wir uns eine Weile an der elektrischen Sonne ergötzt hatten, welche die Quadriga auf dem Brandenburger Thore mit dem Glanze des Tages umgab, und an den buntfarbigen Feuerkugeln, die neben ihr hoch in den wolkenlosen Aether hinaufzischten.

H. Scheube.




Ein moderner Eugen Aram.
Skizze aus dem amerikanischen Verbrecherleben.


Im großen Ganzen bieten die Vorkommnisse und hauptsächlich die Charaktere aus dem Bereiche der amerikanischen Verbrecherwelt höchst selten Gelegenheit dar, dieselben zum Gegenstande „unterhaltender“ Lectüre zu machen. Alle unsere Verhältnisse sind im Grunde genommen noch sehr ursprünglich, und so hat auch unsere Verbrecher und unsere Verbrechen noch nicht Europens übertünchte Höflichkeit beleckt. Ungenirte Rohheit ist hier zu Lande das charakteristische Merkmal der Verbrecher, es fehlt ihnen der Schliff der Civilisation, der die Bösewichte Europas gar häufig den Novellisten willkommene Vorwürfe zu interessanten und pikanten Romanfiguren bieten läßt.

Wenn ich es aber dennoch wage, die Leser der Gartenlaube hier einen Einblick in die amerikanische Verbrecherwelt thun zu lassen, so ist es nicht so sehr das Verbrechen selbst, das an und für sich nur dem Criminalisten von Interesse sein kann, welches mich zu einer Besprechung veranlaßt hat, sondern in erster Linie der wirklich eigenthümliche Charakter des Verbrechers, der nicht sowohl dem Criminalisten als dem Psychologen reichen Stoff zum Nachdenken darbieten dürfte. Ich bin mir wohl bewußt, daß meine Darstellung nicht erschöpfend sein kann, aber das überaus reichhaltige und schätzbare Material, das vor Allem in der New-Yorker englischen Presse in Folge dieser Cause célèbre aufgehäuft wird, bietet wenigstens Momente genug dar, um einen tiefen Blick in diese moderne Eugen-Aram-Natur thun zu lassen.

Zunächst erlauben Sie mir, in ganz kurzen Zügen die Momente des Mordprocesses, der dem Treiben eines wahren Scheusals ein Ende gemacht hat, hier anzuführen.

Am 11. Januar dieses Jahres wurde in Binghampton im Staate New-York Edward H. Rulloff wegen Mordes zum Tode verurtheilt, und am 3. März sollte er „am Halse aufgeknüpft

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 505. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_505.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)