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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Drei Kreuzträger des Eisenbahncapitals.
Bahnwärter. – Weichensteller. – Packmeister.


Kurz vor dem Beginn unseres Krieges gegen Frankreich gingen uns mehrere mit Thatsachen beschwerte Klagen von unteren Eisenbahnbediensteten zu. Ehe wir an die Prüfung und Veröffentlichung derselben gehen konnten, war der Sturm losgebrochen, der alle Interessen, welche nicht den großen Kampf angingen, aus dem Gesichtskreise des Augenblicks entfernte. Wir legten deshalb auch jene Klagen zurück, denn auch über sie würde der Sturm dahingebraust sein. Die wunderbare Wendung des deutschen Schicksals, die ununterbrochene Siegesreihe, welche gebot, die Stangen der Siegesfestfahnen permanent an den deutschen Häusern zu befestigen, erweckte in uns die Hoffnung, daß das unermeßliche Glück dieses Krieges für den heimischen Wohlstand, also vor Allem für die Leute der Dividenden und Staatspapiere, wohl von selbst zur Aufbesserung der drückenden Lage dieser Arbeitsopfer anregen werde. Wir haben uns leider getäuscht, die Klagen vor dem Kriege werden von Neuem laut, im Reichstage haben diese Kreuzträger noch keinen Fürsprecher gefunden, die Bitten derselben werden täglich dringender, – und so muß denn wieder einmal die „Gartenlaube“ es unternehmen, die Angelegenheit dem Urtheil ihrer Leser vorzulegen. Wir fußen dabei auf einem von Friedrich Juncke in Köln eingesandten Aufsatze „über Eisenbahn-Wachtdienst“, sowie auf mehreren anderen Zuschriften, deren Verfasser, mit einer einzigen Ausnahme, sich uns genannt haben und von denen wir einen Aufsatz von T… „Die Wärter der Eisenbahnen“ noch besonders hervorheben müssen.

Ist das wirklich möglich?“ – So fragten wir bei der Mittheilung einer uns in den ersten Wintermonaten des vorigen Jahres zugegangenen Klage. Damals betraf’s einen Bahnwärter, welcher bei zehn Thaler Monatsgehalt nur für vier Wintermonate täglich einen Silbergroschen zu Holz und Kohlen erhielt und dem man es somit freistellte, mit diesem Aufwande für Heizungsmaterial in der grimmigen Kälte in seiner zugigen Bretterbude die Glieder zu erfrieren, oder von seiner kärglichen Einnahme seiner Familie noch einen Theil zu entziehen, um das Wärterhaus dieser Bahn zu heizen. Der Mann, der uns dies schrieb, fügte die Bemerkung bei: „Wenn man mit dem Vieh so verführe, so würde sich doch wenigstens der Thierschutzverein in’s Mittel legen.“ – Da uns über eine Besserung dieser Zustände seitdem Nichts mitgetheilt wurde, so müssen Diejenigen, welche Genaueres darüber zu erfahren wünschen, sich an das Directorium der Breslau-Schweidnitz-Freiburger Eisenbahn wenden, welche die glückliche Besitzerin dieses im Winter kaltgestellten Bahnwärterhäuschens ist.

Nicht beneidenswerther ist, nach dem uns Mitgetheilten, das Loos eines Packmeisters einer ebenfalls schlesischen Bahn. Der Mann dient bei derselben jetzt in’s achtzehnte Jahr, mußte eine Caution von hundertfünfzig Thalern hinterlegen und bezieht einen Monatsgehalt von sechszehn Thalern. Für diesen Sold muß er, mit Ausnahme von zwei Nächten und einem Tage, fortwährend im Dienst sein und alle Verantwortlichkeit tragen. Bei der theuren Wohnungsmiethe und den hohen Preisen der meisten Lebensbedürfnisse in einer größeren Stadt ist der Mann, selbst wenn er die Ansprüche auf Kleidung und Nahrung bis auf das bescheidenste Maß beschränkt, nicht im Stande, eine Familie von sechs Personen zu erhalten. Der Verfasser wirft einen neidischen Seitenblick sogar auf die Weichensteller, deren Vorgesetzter er sei, während er noch weniger Einnahme beziehe, als selbst diese. Wir erzählen auch hier vorläufig nur den Fall ohne Namensnennung. Besteht in der That ein so schreiendes Mißverhältniß zwischen Dienstanspruch und Lohngewährung, so werden sich sicherlich mehr Stimmen über diesen Gegenstand vernehmen lassen, denen dann nachdrücklicher Gehör zu verschaffen ist.

Bahnwärter und Weichensteller, die zu den vereideten Bahn-Polizei-Beamten gehören, werden nach Fr. Juncke in der Regel aus den bei dem Bau oder den Unterhaltungsarbeiten der Eisenbahnen beschäftigten und daher mit deren Einrichtungen doch einigermaßen vertrauten Arbeitern (sogenannten Rottenarbeitern) gewählt. Sie müssen unbescholtenen Rufs und großjährig sein. Die Aufgabe der Weichensteller ist durch ihre Bezeichnung genügend angegeben; die Aufgaben der Bahnwärter sind schon vielgestaltiger. Sie haben die ihnen zugetheilte Bahnstrecke zu überwachen, beim Herannahen der Züge die vorgeschriebenen Signale zu geben, etwa auf demselben Geleise sich begegnende Züge durch das Halte-Signal zu warnen, die Barrièren an Bahnübergängen zu schließen und zu öffnen, fremde Gegenstände, welche das Geleise versperren, und überhaupt Alles zu entfernen, was einen Unglücksfall herbeiführen könnte. Außerdem haben viele Bahnwärter auch an der Instandhaltung der Gräben und Böschungen der Bahn und an der Bahnplanung mit zu arbeiten. Die Gesammtthätigkeit der Wärter und Weichensteller hängt allerdings von der Frequenz ihrer Bahnstrecke ab; es ist natürlich ein Unterschied, ob vierzig oder zehn Züge des Tags passiren. Unter allen Umständen müssen aber beide vom ersten bis zum letzten Zuge auf ihrem Posten sein, die Bahnwärter sogar noch eine halbe Stunde vor dem ersten Zuge, weil sie für denselben erst ihre Bahnstrecke zu begehen haben.

Da aber auf den wenigsten Bahnen Norddeutschlands die Wärterhäuser bewohnbar oder gar zur Familienwohnung eingerichtet sind (man findet dies nur in Oesterreich, Sachsen und hier und da in Süddeutschland), sondern da die für sie erbauten hölzernen oder steinernen Buden in der Regel nur ein wenig verlängerten Schilderhäusern gleichen, so muß der Wärter, wie der Weichensteller, anderwärts und, wo es keine nähere Gelegenheit giebt, wohl auch eine Stunde und weiter entfernt wohnen. Bei alle Diesem ist der tägliche Her- und Hinweg noch von der kargen Zeit abzurechnen, welche diesen Leuten zum Ausruhen, zum Sammeln frischer Kräfte vergönnt ist. Mit dieser Wegzeit nimmt der Dienst die Mehrzahl dieser Bahnbeamten sechszehn bis achtzehn Stunden in Anspruch. Dabei haben sie nur je alle vierzehn Tage einen freien Tag, sind Jahr aus, Jahr ein den Unbilden jeden Wetters ausgesetzt und erleiden somit Angriffe auf die Gesundheit, die nur durch kräftige Nahrung unschädlich gemacht werden können.

Wie steht es nun aber mit der Möglichkeit dieser wünschenswerthen „kräftigen Nahrung“? – Bodenlos erbärmlich! Das Diensteinkommen dieser Männer beträgt im Durchschnitt hundertsechszig bis hundertsiebenzig Thaler jährlich, und dazu kommt noch ein Beitrag zur Wohnungsmiethe von zwölf ein Sechstel Thalern und in vier Wintermonaten täglich ein Groschen zur Heizung des Bahnwärterhäuschens. Von der Jahreseinnahme sind übrigens noch, bei definitiver Anstellung, die etwa ein Zwölftel derselben repräsentirenden Beiträge zur Pensionscasse zu entrichten. Die Armen haben für ihre eigene Armenanstalt zu sorgen!

Man sieht, diese Stellen im Dienste der Eisenbahnen sind nur für das Cölibat eingerichtet. Oder will Jemand ausrechnen, wie viel einem Familienvater, der Wohnung, Kleidung, Schule, im Winter Heizung und alle Zeit Speise und Trank für die Seinen zu beschaffen hat, von jener Einnahme für seine eigene „möglichst kräftige Nahrung“ übrig bleibt? Ihm bleibt Nichts übrig, als mit den Seinen gemeinsam zu kargen. Es ist eine wachsende Armuth, die an allen Bahnlinien entlang durch diese verheiratheten Bahnbediensteten in die Welt gesetzt wird. Jedes Kind vermehrt sie nur, und die Armuth ist so kinderreich! –

Und diesem Mißstande sollte wirklich nicht abzuhelfen sein? – „Nein!“ gellt das Zetergeschrei des Doppelchors aller Finanzbeflissenen der Privat- wie der Staatsbahnen. „Nein! Daran ist gar nicht zu denken! Man betrachte nur die Heerschaar dieser Leute! Wir haben Eisenbahnstrecken, wo die Meile uns zehn bis zwölf Bahnwärter und wenigstens vier bis sechs Weichensteller kostet, – was sind das bei dreißig, vierzig und fünfzig Meilen für ein Haufen Leute! Und ist’s denn nicht sonnenklar, daß wir durch eine bessere Bezahlung derselben nur unsere Einnahme verkürzen?“ –

Das ist außerordentlich klar. Aber ebenso klar ist es, daß Bahnwärter und Weichensteller, als Bahnpolizeibeamtete, zu den mittelbaren Staatsbeamten gehören. Dafür spricht ebenso die Norm ihres Diensteides als der Umstand, daß nicht die Gesellschaft, sondern der Staat die polizeiliche Gewalt ausübt, beziehungsweise durch diese Beamteten ausüben läßt.

Ebendeswegen ist’s aber auch Sache des Staats, zu verhüten, daß diese mittelbaren Ausüber seiner polizeilichen Gewalt nicht durch den Uebereifer der Finanzspeculation in einen körperlichen Zustand versetzt werden, der ihnen jene Pflichterfüllung zur Unmöglichkeit macht. Was ist’s aber Anderes, als dies, wenn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 520. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_520.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)