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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Sie nahm ohne Weiteres die Lampe vom Tisch – und aus und vorbei war es mit meiner heroischen Anwandlung; den hätte ich sehen wollen, der auf Ilse’s letztes Wort, auf ihre energische Kopfwendung hin noch etwas zu erwidern versucht hätte.

Ich rief Heinz, der eben das Hausthor schloß, gute Nacht zu und folgte ihr pflichtschuldigst nach der Eckstube, in welcher wir Beide schliefen.




5.


Es war dumpf und heiß in der Stube. Ilse hatte bereits die Holzläden in die zwei Eckfenster eingesetzt; und hätte sie über Vorhänge zu gebieten gehabt, sie wären sicher auch undurchdringlich übereinander gezogen gewesen.

„Hier, Du Leichtsinn, sind Deine neuen Schuhe!“ sagte sie, und zeigte unter den Stuhl, der neben meinem Bett stand. „Wäre Heinz nicht gewesen, da stünden sie noch draußen, und das Gewitter wüsche sie heute Nacht in den Fluß.“

Ich fühlte, wie meine Wangen heiß wurden beim Anblick der zwei nägelbeschlagenen, häßlichen Unglückscameraden. Zudem fiel das Lampenlicht grell auf den alten, verräucherten Kupferstich, der an der Wand hing und Karl den Großen vorstellte. Das Bild heftete seine großen Augen unverwandt auf mich - ich wandte ihm den Rücken und stieß die Schuhe unvermerkt mit dem Fuß tief unter den Stuhl; ich mochte sie nicht mehr sehen, ich wollte nie mehr an die Fremden erinnert sein, mit deren Erscheinen eine ganze Reihe von Unannehmlichkeiten und neuen peinvollen Empfindungen in mein einsames, harmloses Leben hereingebrochen war.

Ilse verließ das Zimmer nicht eher, als bis sie mich im Bett wußte. Allein mit einem aufgeregt klopfenden Herzen voll schlimmer Ahnungen schläft auch die Jugend nicht ein. Ich schlüpfte wieder in meine Kleider, hob den Laden aus dem westlichen Eckfenster, das in den Baumhof sah, und setzte mich dicht neben dasselbe auf das Fußende meines Bettes. Das fast greifbare Dunkel im Zimmer lichtete sich, und ich wurde ruhiger, wenigstens verlor sich die leidige Gespensterfurcht sofort.

Geräuschlos klinkte ich das Fenster auf. Ein niedriger Ebereschenbaum draußen an der Wand, der in ihrem Schutz, zur Wonne der Vögel, sich alljährlich üppig mit seinen rothen Beerendolden behing, schob seine äußersten Zweigspitzen über die Scheiben. Hinter dem grünen Gespinst saß ich geborgen und konnte doch über Garten und Wiesen hinweg in die dämmernde Welt hineinsehen. Ilse hatte vorhin von einem drohenden Gewitter gesprochen; aber nie hatte sich der Sternenhimmel makelloser über die Haide hingebreitet! Die köstlich laue Nachtluft wehte mich an mit kaum fühlbarem Athem, nicht das kleinste Blättchen an den Bäumen hob sich vor ihm, um hinauszuflüstern in die herrschende Todesstille – für mich war sie trotzdem belebt; freilich nicht mehr durch die Geistertritte der Riesenrosse, die den greisen Hünenkönig und sein Gefolge über das Haideland trugen – den gold- und purpurstrotzenden Traum hatte heute die unbarmherzige Hacke gründlich zerstört – aber ich wußte ja, in jedem Erikastengel trieb und quoll es empor und formte in zarten Umrissen Millionen und aber Millionen Blüthenköpfchen, die in Kurzem hervorkommen sollten, um sich im Sonnenlicht die blassen Löckchen purpurn färben zu lassen. Und heute war ich droben im höchsten Eichengipfel gewesen und hatte im alten Elsternest vier Eier gezählt – da drin trieb es und dehnte sich auch und frug im emsigen Wachsen nicht, ob es Tag oder Nacht sei, bis das Schnäbelchen an die Schale pochte und Raum und Licht schaffte für zwei neue kluge Aeuglein … Ich wußte auch, daß jetzt weit drüben aus dem Waldsaum leisen Trittes die Rehe kamen und wohlig die Haideluft schlürften, die, auch über den Dierkhof hinstreichend, Wiesen und Kräuterdüfte mitbrachte.

Meine Pulse waren allmählich ruhig geworden. Unbewußt hatte ich in die glatte, friedliche Bahn meines gewohnten Denkens eingelenkt und die Interessen wieder aufgenommen, die meine anspruchslose Seele bisher vollkommen ausgefüllt.

Im Hause war es still geblieben, so still, daß ich Mieke’s Kette durch die Wand hatte klirren hören. Ilse hatte Recht gehabt mit ihrer Versicherung und konnte nun jeden Augenblick mit dem Licht in die Schlafstube treten. – Hei, wie rasch mich der Gedanke auf die Füße brachte! Ich wäre sicher binnen zwei Minuten in dem hochaufgethürmten Federbett rettungslos versunken gewesen, hätte nicht plötzlich das Zuwerfen einer fernen Thür alle Balken und Pfosten des Dierkhofes erzittern gemacht.

Ich war eben im Begriff, das Fenster zu schließen, da kam es lautathmend um die Ecke, dicht am Fenster hin, so daß der gewaltige grauhaarige Kopf meiner Großmutter in erschreckender Nähe an mir vorüberfuhr.

„Es brennt, da – da!“ stöhnte sie im Vorüberlaufen und hielt beide Hände auf die Stirn gepreßt.

Ich wagte nicht, mich hinauszubiegen und ihr nachzusehen, hörte aber, wie sie gleich darauf stehen blieb, und ihre weitausgestreckten Arme kamen in das Bereich meiner Blicke.

„Denn das Fener ist angegangen durch meinen Zorn,“ sprach sie mit erhobener Stimme, in feierlich beschwörendem Pathos, „und wird brennen bis in die unterste Hölle, und wird verzehren das Land mit seinem Gewächs, und wird anzünden die Grundveste der Berge!“

Langsam schritt sie unter den Eichen hin und trat in die Ecke des Baumhofes. Sie stand mir nicht allzu fern, und es war hell genug, ich konnte sie deutlich sehen – bildete doch der Himmel mit seinem Goldgefunkel einzig und allein den Hintergrund für die kräftigen Umrisse der Gestalt. Sie hatte das Obergewand abgeworfen, die weiten Hemdärmel hingen von den Schultern und schimmerten weiß herüber, und den Rücken hinab fielen halbaufgeflochten in vereinzelten Strähnen die langen Zöpfe.

Was sie hinaussprach in die lautlos schweigende Haide – ich verstand es nicht; es war mir, als hörte ich alle die Fremdwörter des alten Professors hier in einem Fluß, aber mit eigenthümlich singender Betonung. … Plötzlich riß das Gemurmel in einem halberstickten Schrei ab; meine Großmutter fuhr herum, und die ruhelosen Füße begannen abermals, in verdoppeltem Geschwindschritt, die Wanderung. Ich meinte, sie wolle auf den Brunnen zustürmen – da lief sie blindlings gegen eine der Eichen, taumelte zurück, nahm nochmals einen Anlauf und brach zusammen, plötzlich, gewaltsam, wie niedergerissen durch unsichtbare Hände.

„Ilse, Ilse!“ schrie ich auf. Aber da stand sie schon und versuchte unter Heinzens Beistand die Gestürzte aufzurichten. Die Beiden hatten jedenfalls von der Baumhofthür aus meine Großmutter bewacht und beobachtet. Ich sprang zum Fenster hinaus.

„Sie ist todt!“ flüsterte Heinz, als ich zu ihnen trat. Er ließ muthlos den gewaltigen Körper zurücksinken, der in seiner Leblosigkeit jedenfalls furchtbar schwer war.

„Sei still!“ gebot Ilse mit erstickter Stimme. „Auf, brauche Deine Kräfte – vorwärts!“ Und sie faßte meine Großmutter unter den Armen und nahm sie mit übermenschlicher Kraft vom Boden auf, während Heinz die Füße hob.

Nie werde ich den erschütternden Anblick vergessen, als sie keuchend über den Fleet schritten, und die grauen Haarsträhnen der Leblosen über die Steinfließen hinschleiften, auf denen vor kaum einer Stunde noch die Geldstücken unter kräftigen Fußstößen umhergeflogen waren.

Ich lief voraus und öffnete die Thür im Zimmer meiner Großmutter; aber ich mußte erst noch eine hohe spanische Wand, die im Halbkreis den Eingang umstellte, zuückschieben, ehe ich in das Zimmer selbst eintreten konnte, der Einblick war den profanen Augen Vorübergehender somit vollkommen verwehrt. Ich hatte diesen Raum nie betreten dürfen, selbst als kleines Kind nicht. Bei aller Seelenangst und Gemüthserschütterung war mir doch in diesem Augenblick zu Muthe, als sähe ich mit zurückschreckenden Augen in eine neue Welt, aber in eine unsäglich düstere. Ich habe denselben Eindruck nur einmal noch empfangen, als ich eintrat in eine uralte dämmerdunkle Kirche voll halberblindeter Pracht, voller Marterbilder und erfüllt mit jenem unbeschreiblichen Gemisch von kalter eingeschlossener Kirchenluft und erstickenden Weihrauchdüften.

Meine Großmutter wurde auf ein Bett niedergelegt, das in der einen Ecke stand, es hatte Vorhänge, altmodische, steifseidene grüne Vorhänge, in die feine Goldblümchen eingewirkt waren. Wie das knisterte und rieselte, als sie zurückgeschlagen wurden, und wie schreckenerregend das bläuliche Gesicht mit den geschlossenen Augen unter dem harten dunkeln Grün hervorsah!

Heinz hatte sich geirrt, meine Großmutter war nicht todt. Schwerathmend lag sie da; sie rührte kein Glied, aber als Ilse in so weichflehenden Tönen, wie ich sie nie von ihr gehört, ihren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 548. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_548.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)