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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Sie sah mit einem schattenhaften Lächeln an der linken Körperseite nieder. „Das ist bereits dem Staub verfallen!“ sagte sie kalt. „Wie viel Zeit geben Sie mir noch?“ wiederholte sie unabweisbar nachdrücklich mit geschärfter Stimme.

„Nun denn – höchstens eine Stunde.“

Mir stürzte ein Thränenstrom aus den Augen, und Ilse flüchtete in ein Fenster und preßte das Gesicht gegen die Scheiben. Nur meine Großmutter blieb vollkommen ruhig. Ihre Augen hefteten sich auf den Silberleuchter an der Decke.

„Zünde an, Ilse!“ gebot sie, und während diese auf einen Stuhl stieg und Flämmchen um Flämmchen unter ihren Händen aufflackerten, wandte sich die Kranke zu dem Arzt.

„Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind,“ sagte sie, „und möchte Sie noch um einen letzten Liebesdienst bitten – würden Sie die Güte haben, niederzuschreiben, was ich dictiren werde?“

„Von Herzen gern, gnädige Frau, aber falls es sich um einen letzten Willen handeln sollte, so muß ich darauf aufmerksam machen, daß es ungültig sein wird ohne gerichtliche –“

„Ich weiß das,“ unterbrach sie ihn. „Allein dazu verbleibt keine Zeit. Meinem Sohne wird und muß mein letzter Wille auch in dieser Form genügen.“

Ilse brachte Schreibgeräth, und meine Großmutter dictirte:

„Ich vermache Ilse Wichel den Dierkhof mit seinen vollen Einrichtungen und allen Liegenschaften –“

„Nein, nein –“ schrie Ilse angstvoll und erschrocken auf, „das leide ich nicht!“

Meine Großmutter warf ihr einen strengen, zurechtweisenden Blick zu und sprach unbeirrt weiter: „als einen Beweis meiner Dankbarkeit für ihre unbegrenzte Hingebung und Aufopferung. … Ich vermache ferner meiner Enkelin, Leonore von Sassen, was ich an Staatspapieren noch besitze, und darf Niemand, wer es auch sei, ein Recht daran erheben.“

Ilse war emporgefahren und sah erstaunt nach ihr hinüber. Die Kranke deutete auf einen Schrank. „Da drin muß ein Blechkasten stehen. … Nimm ihn heraus, Ilse; ich habe völlig vergessen wie viel er enthält.“

Ilse öffnete den Schrank und stellte einen niedrigen Blechkasten auf den Tisch. Ein verrostetes Schlüsselchen steckte in dem Vorlegeschloß.

„Es mag wohl lange, lange her sein, daß ich ihn nicht berührt habe,“ murmelte die Kranke und hob matt die Rechte nach der Stirne. „Es ist finster in mir gewesen – ich weiß es. … Welches Jahr schreiben wir?“

„Das Jahr 1861,“ entgegnete der Arzt.

„Ach, da mag Manches da drin verfallen und werthlos geworden sein!“ klagte sie, während er den Deckel zurückschlug. Auf den Wunsch der Kranken überzählte er die Papiere, die den Kasten bis an den Rand füllten.

„Neuntausend Thaler,“ berichtete er.

„Neuntausend Thaler!“ wiederholte meine Großmutter befriedigt. „Sie genügen, um die Noth abzuwehren. … Es muß auch noch eine kleine Schachtel in dem Kasten liegen.“

Ich sah, wie Ilse den Kopf schüttelte über diese plötzliche Geistesklarheit, die so leicht da anknüpfte, wo vor vielen Jahren der glatte Faden des ungetrübten Denkens abgerissen war. Der Arzt nahm eine unscheinbare Holzschachtel aus dem Kasten – sie enthielt eine Perlenschnur.

„Der letzte Rest der Jakobsohn’schen Herrlichkeit!“ flüsterte die Kranke wehmüthig vor sich hin, „Ilse, lege die Schnur um den kleinen braunen Hals dort! … Sie gehört zu Deinem Gesicht, mein Kind!“ sagte sie zu mir, während ich leise in mich zusammenschauerte unter der kühlen, schmeichelnden Berührung. „Du hast die Augen Deiner Mutter, aber die Jakobsohn’schen Züge. … Das Band hat viel Familienglück und schöne friedliche Zeiten voll Glanz gesehen; aber es ist auch mitgeflüchtet vor dem Scheiterhaufen und anderen grausamen Marten der christlichen Unduldsamkeit!“ Sie rang nach Athem. „Nun will ich unterschreiben!“ stieß sie nach einer Pause der Erschöpfung sichtlich beängstigt hervor.

Der Doctor legte das Papier auf die Bettdecke und drückte die Feder in die steife Hand. … Sie war unsäglich mühselig, diese letzte irdische Handlung, aber der Name, Clotilde von Sassen, geborene Jakobsohn, stand schließlich doch in ziemlich festen großen Zügen unter dem Document, das auch der Arzt als Zeuge mittels einiger Worte unterschrieb.

„Weine nicht, mein Täubchen!“ tröstete sie mich. „Komme noch einmal her zu mir!“

Ich warf mich sprachlos am Bett nieder und küßte ihre Hand. Sie trug mir Grüße an meinen Vater auf, und richtete ihre großen verschleierten Augen von meinem Gesicht hinweg fest und sprechend auf Ilse.

„Das Kind darf nicht verkommen in der einsamen Haide!“ sagte sie bedeutsam.

„Nein, gnädige Frau, dafür lassen Sie mich sorgen!“ versetzte die Angeredete in ihrer gewohnten knappen Kürze, obgleich ihr die Lippen schmerzlich zuckten und helle Thränen an ihren Wimpern hingen.

Noch einmal glitt die kalte matte Hand liebkosend über mein Kinn, dann schob mich meine Großmutter sanft, aber doch in jener ängstlichen Hast, die mit jeder Secunde geizt, von sich und sah starr nach einem der Fenster mit einem so seltsam ausdrucksvollen Blick, als wolle die Seele auf ihm bereits hinausfliegen in das All.

„Christine, ich verzeihe!“ rief sie zwei Mal angestrengt in die Lüfte, in die weite Ferne hinaus. … Sie war fertig, gerüstet. Sichtlich beruhigt rückte sie den Kopf in den Kissen zurecht, wandte den Blick nach oben und begann feierlich inbrünstig, wenn auch mit erlöschender Stimme: „Höre, Israel, unser Herr, unser Gott ist ein Einziger und Einiger! … Gepriesen sei der Name seiner Herrlichkeit –“ die Stimme erstarb in einem geflüsterten Hauch; sie neigte sanft und langsam das Haupt seitwärts.

„In Ewigkeit, Amen!“ vollendete der Arzt an Stelle des Mundes, der für immer verstummt war.

Er drückte ihr mit sanfter Hand die Lider über die Augen.




7.

Ich ging hinaus. Das erste tiefe Weh war über mich gekommen. Wie versteinert stand ich vor jenem unerbittlichen „vorbei für immer!“ das uns angesichts des ausgelöschten Lebens so völlig unglaublich erscheint.

Mit der ganzen enthusiastischen Zärtlichkeit, die so leicht aus dem jugendlichen übervollen Gemüth hervorquillt, hatte ich mich an die neugeschenkte Großmutter gehangen. Ich durfte das unaussprechlich süße Gefühl kosten, welches mir sagte, die Hingebung meines kleinen Herzens werde heiß gewünscht – und nun marterte mich der Gedanke, daß ich nicht genug gegeben, daß ich meiner Großmutter bei weitem nicht überzeugend genug ausgesprochen habe, wie sehr ich sie lieben wolle. Es war mir Bedürfniß gewesen, ihr zu versichern, daß ich sie auf den Händen tragen werde, wenn sie erst wieder gesund sei – statt dessen hatte ich sorglos die ganze kostbare Zeit verstreichen lassen und kindischer Weise von meiner Liebe für die ganze Welt gesprochen. … Das hatte sie gewiß am wenigsten hören wollen, sie, der man draußen in der Welt so furchtbar wehe gethan. … Und nun war sie gestorben, und ich konnte ihr dies Alles nicht mehr sagen. … Zu spät! Unsere ganze Ohnmacht und Hülflosigkeit liegt in dem niederschmetternden Wort!

Ich trat durch die Baumhofthür in’s Freie. Ein kräftiger Luftstrom, noch mit den Spuren der Nachtfeuchte im Athem, strich über die Haide her. Er blies dem Torfsumpf die große federweiße Schlafhaube ab und verdünnte sie zum zarten Spitzenvorhang, hinter welchem das Sonnenfeuer aufzuglühen begann. Rothgolden färbten sich die rauschenden Eichenwipfel, und das kleine Giebelfenster des Dierkhofes fing an zu blinken.

Wie trunken schwankten die Grashalme unter dem funkelnden Thau; aber aufgerichtet hatten sich alle wieder, über die meine Großmutter heute Nacht zum letzten Mal hingeschritten war. Die Fenster des Sterbezimmers, die ich nie anders als halbverhüllt gekannt hatte, standen weit offen. Ich schwang mich auf die Brüstung und sah hinein. Das Zimmer war leer. Die Vorhänge, jetzt im schräg einfallenden Morgenlicht smaragdfarben schimmernd, waren nach der Wand zurückgeschlagen und ließen die Lüfte über das Bett hinstreichen. … In eine so athemlose friedensvolle Stille hinein hatte das gequälte Gesicht des jungen Isaak wohl seit langen Jahren nicht gesehen. Die mächtige Gestalt, der das Blut so heiß und ungestüm in den Adern gekreist

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 563. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_563.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)