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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Husch, da war der braune Lockenkopf mit der blendend weißen Stirn wieder und sah mich mit spöttischen Augen an – er kam immer so unversehens und erschreckte mich jedesmal so heftig, daß mir das Blut heiß nach den Schläfen schoß!

„Mein Vater will mich ja nicht!“ sagte ich und steckte das Gesicht in Ilse’s Halstuch.

„Das wollen wir sehen!“ versetzte sie mit einem schlecht unterdrückten Seufzer; aber sie warf herausfordernd den Kopf zurück und schob mich von sich.

„Muß es wirklich sein? … Ach Ilse –“

„Es muß sein, Kind! … Und nun sei still und mache mir das Leben nicht schwer! Denke an Deine Großmutter, die hat’s auch so gewollt!“

Sie nähte mit verdoppeltem Eifer den zweiten Aermel in das schwarze Kleid; Heinz aber schob die kaltgewordene Pfeife in die Tasche und schlich fort. Gegen Abend sah ich ihn drüben auf dem großen Hünenbett sitzen; er hatte die Arme um die Kniee gelegt und sah unverwandt hinaus in’s Weite. … Ich lief hinüber und setzte mich zu ihm, und nun flossen die Thränen unaufhaltsam, die sich in Ilse’s strenger Gegenwart nicht hervorgewagt hatten. Ein so tiefes Trennungsweh hatte das blaue Stück Himmel über uns wohl lange nicht gesehen!

Am andern Tage sah die Wohnstube schrecklich aus. Eine große hölzerne Truhe stand auf den Dielen, und Ilse packte ein.

„Da sieh her!“ sagte sie und hielt mir ein Paket grober, buntgewürfelter Bettüberzüge hin. „Ist das nicht eine wahre Pracht? … Ja, da ist Kern drin! … Das Spinnwebenzeug, in dem die Großmutter schlief, ist mir von jeher ein Gräuel gewesen!“

Sie schob einen Stoß außerordentlich feinen, mit Stickerei besetzten Leinenzeugs verächtlich auf die Seite. „Die neuen Ueberzüge bekommst Du mit; die habe ich nach und nach für den Haushalt angeschafft, seit wir auf dem Dierkhof sind – halte sie ordentlich!“

Auch ein ganzes Regiment jener steifen, unförmlichen Strümpfe aus Haidschnuckenwolle wanderte in den Koffer und füllte einen beträchtlichen Raum. Ilse hatte jahrelang beträchtliche Vorräthe für mich aufgespeichert, die nun draußen in der Welt „Staat machen“ sollten. … Dann wurden kolossale strotzende Federbetten zu einem Ballen geknetet und in Sackzeug eingenäht – ein riesiges Frachtstück!

Mir verursachten alle diese Vorbereitungen entsetzliches Herzweh, und doch gab es Augenblicke, wo meine junge Seele plötzlich schwoll, wo es über sie kam wie ein frohes Ahnen, eine schöne Hoffnung; aber das erschien und erlosch wie der Blitz, und – seltsame Gedankenverbindung – mein Blick huschte jedesmal scheu und prüfend über meine Schuhe hin. Sie waren jetzt recht hübsch ausgetreten und gewährten meinen Füßen in liberalster Weise Spielraum. Ich trat so stark auf, als ich vermochte, und suchte mein ängstliches Herz mit der unumstößlichen Gewißheit zu beruhigen, daß die Nägel doch bei Weitem nicht mehr so entsetzlich klapperten wie vor vier Wochen. Aber das half nicht immer, und so verstieg ich mich denn einmal in meiner Bedrängniß zu der schüchternen Bitte, Ilse möchte mir unterwegs ein Paar neue Schuhe kaufen. Aber da kam ich schön an. Sie zog mir einen Schuh aus und hielt ihn gegen das Licht.

„Solche Nähte und solche Sohlen, die kann man suchen!“ sagte sie. „Das sind Schuhe, in denen Du noch nach zwei Jahren zum Tanzen gehen kannst! … Brauchst keine neuen!“

Damit war die Sache erledigt.

Und er kam wirklich, der Morgen, da ich meinen geliebten Dierkhof verlassen sollte. … Früh vor vier Uhr lief ich schon durch die thautriefende Haide. Ich winkte mit ausgebreiteten Armen über die Millionen blüthenbeschwerter Erikastengel hin und nach dem qualmenden Torfsumpf hinüber, und schüttelte die gute, alte Föhre im Abschiedsschmerz so heftig, daß die letzten dürren Nadeln vom vergangenen Winter auf mein flatterndes Haar herabrieselten … Spitz war mitgelaufen und bellte und freute sich wie närrisch – er hielt alle meine heftigen Bewegungen für eitel Spaß und Kurzweil, die ich ihm machen wolle. Ich flocht einen bunten Kranz – und legte ihn auf Mieke’s Hörner, die schlaftrunken aufblinzelte und zu bequem war, um mir auch nur mit einem leisen Brummen zu danken oder Adieu zu sagen.

Dann zog mir Ilse das neue, schwarze Kleid an und band eine schneeweiße, breite und faltenreiche Battistkrause aus dem Wäschespind der Großmutter um meinen Hals – mein schwarzbrauner Kopf lag darauf wie eine abgefallene Haselnuß auf einem kleinen Schneepolster. Darüber wölbte sich der umfangreiche, braune Strohhut, den Ilse mit einem schwarzen Band besteckt hatte. Ich mag wohl eine merkwürdige Reiseerscheinung gewesen sein, ähnlich wie die kleinen Waldpilze mit den großen Hutdeckeln, die ich immer so lächerlich fand.

Nach dem Kaffee, den ich unter Thränenströmen hinabgeschluckt hatte, brachte Ilse eine Schachtel und nahm feierlich, mit spitzen Fingern einen violetten Taffethut heraus.

„Das war mein Kirchenhut in Hannover,“ sagte sie vor den Spiegel tretend und setzte sich das wunderliche Seidenhaus vorsichtig auf den Scheitel. „In der Stadt darf man nicht ohne Hut ausgehen – es ist nun einmal so!“ –

Ich sah scheu zu ihr auf. Der Begriff „Mode“ existirte natürlicherweise nicht für mich. Ich hatte keine Ahnung davon, daß es jenseits der Haide eine Macht gab, welcher sich der Mensch widerstandslos unterwirft, und von der er seine äußere Erscheinung in Formen treten und kneten läßt, wie sie gerade Lust und Laune hat. Deshalb wurde auch mein Respect vor dem schnabelförmigen Gebäude selbst nicht im Geringsten geschmälert; aber es hatte während der zwanzigjährigen Rast in der Hutschachtel offenbar stark an Glanz und Nüance eingebüßt. Ilse schien das nicht zu finden. Sie zupfte die mißfarbenen Pensées über ihrer krausen, gelben Haarwolke zurecht, warf die offen herabhängenden Bindebänder in den Nacken zurück, schlug ein großes, schwarzes Wolltuch um die Schultern und fort ging es.

Heinz und ein Bauerknecht aus dem nächsten Dorfe fuhren das Gepäck. Sanft, aber unwiderstehlich schob mich Ilse aus dem Hausthor, auf dessen Schwelle meine Füße wie festgezaubert standen. Ich hörte hinter mir den Hausschlüssel umdrehen, dann scheuchte Ilse scheltend die Hühner und Enten zurück, die uns durchaus in’s Freie begleiten wollten; sie schrieen und krakelten durcheinander, und dazwischen hinein brüllte die eingeschlossene Mieke von der Tenne her. … Auch das Gatterthor wurde hinter mir zugeschlagen und verrammelt, und nun wanderte ich hinaus aus dem Paradies meiner Kindheit auf demselben Wege, den einst Fräulein Streit gegangen war. …

Wie ich von Heinz fortgekommen bin, kann ich nicht sagen. Ueber den ganzen sonnigen Abschiedsmorgen breitet sich mir heute noch ein Thränenflor. Ich weiß nur, daß ich das gute, alte, weinende Menschenkind mit beiden Armen umschlungen und der schauderhaft breiten und steifen Hutkrempe zum Trotz mein Gesicht tief in seinen alten Drellrock eingewühlt habe, und daß er, umringt von gaffenden Bauernjungen, sein blutgewürfeltes Taschentuch vor die Augen hielt, während ich im Dorf die Kalesche bestieg, in der wir fortrumpeln sollten nach der weitentfernten ersten Poststation.

(Fortsetzung folgt.)




Die Zwingburg im See.


Wer die Schweiz blos in ihrer gegenwärtigen politischen Gestalt kennt als einen Bund von Republiken aus mehr oder minder, doch immer, nach deutschen Polizeibegriffen, sträflich breiter demokratischer Grundlage, der muß sich in hohem Grade überrascht fühlen, wenn er fast in allen zweiundzwanzig Cantonen, auf so zahlreiche Monumente und Zeugen des Feudalismus stößt. An alten Burgen und Adelssitzen namentlich, theils noch erhaltenen, theils in Trümmern liegenden, ist die Schweiz so reich wie irgend ein Land Europas, mindestens ebenso reich wie die ruinengeschmückten Ufer des Rheins und andere große Heerstraßen des mittelalterlichen Verkehrs, ja einzelne Bezirke von Graubünden, von Wallis, von Bern und Waadtland übertreffen Alles, was wir in Deutschland an derartiger Romantik besitzen.

Aber die Demokratie der Schweiz ist in den meisten Cantonen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 580. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_580.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)