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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

„Firma Claudius?“ fragte Ilse.

Der Mann nickte steif, indem er mit achtbarem Unwillen zurücktrat, um den beladenen Männern Raum zu geben.

„Hier wohnt Herr Doctor von Sassen?“

„Nein, hier nicht!“ versetzte er rasch und trat nun mit vorgestreckten Armen den Leuten in den Weg. „Herr von Sassen wohnt in der Karolinenlust – da müssen Sie draußen rechts um die Straßenecke biegen –“

„O Herr Jesus, wir sollen wieder hinaus in die entsetzliche Hitze?“ klagte Ilse mit einem Seitenblick auf mich.

„Thut mir leid,“ sagte der Alte ungerührt und achselzuckend; „aber durch dieses Haus geht der Weg einmal nicht – und Ihr solltet doch wahrhaftig wissen, daß für dergleichen Dinge, für solch einen Huckepack, drüben in der Seitenstraße das Thor ist!“ fuhr er die Leute an und zeigte auf die Effecten.

In dem Augenblick, wo er scheltend die Stimme erhob, fing auch im Hintergrund der Halle ein Hund an, zornig mitzukläffen. Dort führten Stufen zu einer Thür hinab. Auf diesen Stufen stand eine alte Dame in schwarzseidenem Kleide und buntbebändertem Häubchen und wischte, einem zierlichen Pinscher, der jedenfalls eben von draußen hereingekommen war, mit einem Tuche sorgsam die kleinen Pfoten ab.

„Lassen Sie doch die Leute durchgehen, Erdmann!“ sagte sie freundlich herüber.

„Aber, Fräulein Fliedner, sehen Sie doch nur den Staub!“ protestirte er so ängstlich, als hätten wir die ganze Asche des Vesuvs auf unseren Kleidern und Schuhen und könnten damit seinen sauber polirten Fußboden verschütten. „Und wenn nun gar Herr Claudius in der Hinterstube ist und die Leute über den Hof gehen sieht, da kann es Etwas geben, Fräulein Fliedner.“

„Ich schicke Dörte nachher gleich mit dem Besen herunter, und was die Schelte betrifft, so nehme ich sie auf mich,“ beschwichtigte sie ihn. „Uebrigens ist Herr Claudius auf keinen Fall in der Hinterstube – binnen fünf Minuten will er ja nach Dorotheenthal fahren.“

Sie öffnete eigenhändig die Thür nach dem Hofe und winkte uns, durch die Halle zu kommen. Ein leises schelmisches Lächeln huschte über ihr feines Gesicht, als Ilse an ihr vorüberschritt und den bethürmten Kopf dankend neigte, aber sie wandte sich rasch ab und stieg, den knurrenden Hund auf dem Arm, die Stufen wieder hinauf.

„Ein vernünftiges Frauenzimmer,“ sagte Ilse befriedigt vor sich hin, als die Thür rasselnd hinter uns zugefallen war.

Das Wort „Hof“ hatte mich förmlich elektrisirt – ich sah sofort das ganze Geflügel des Dierkhofes fröhlich aufflattern; aber davon war nichts zu sehen in dem großen kahlen Viereck, das wir betraten. Es wurde durch das Vorderhaus, zwei daranstoßende lange Seitenflügel und eine im Hintergrund hinlaufende Mauer gebildet. Den linken Flügel durchbrach ein großes weitoffenes Thor, in welches die Häuser der benachbarten Straße hereinsahen. Hohe Stöße neuer Kisten thürmten sich auf dem reingefegten Pflaster, und die völlige Abwesenheit von Gardinen oder sonstigem Schmuck an den Fenstern der Hintergebäude ließ dieselben als das Geschäftslocal der Firma Claudius erkennen.

Eben, als wir in den Hof traten, zog ein Kutscher ein Paar feurige Pferde aus dem Stalle und führte sie nach einem hübschen hellausgeschlagenen Wagen, der vor der Remise stand.

Unsere Lastträger schritten schnurstracks auf eine inmitten der Mauer gelegene Thür zu, und wir folgten ihnen.

„Wohin wollen denn die Leute?“ rief uns plötzlich eine Stimme in ziemlich kurzem Tone.

Ich zog meinen Hut noch tiefer in die Augen und hütete mich, den Kopf zu wenden – ich erkannte sofort die Stimme des alten Herrn im braunen Hut wieder, wenn sie auch jetzt nicht so weich klang, wie vor vier Wochen in der Haide. … Er war also doch in der Hinterstube und jetzt „gab es Etwas“, wie der Alte in der Hausflur gesagt hatte. … Die zwei Männer blieben auch sofort wie auf ein militärisches Commando stehen und wagten nicht den Fuß weiter zu setzen. Nur Ilse wandte sich resolut um.

„Wir wollen zu Herrn von Sassen – ist’s erlaubt, hier durchzugehen?“ fragte sie höflich.

Es erfolgte keine Antwort; aber der Herr hatte jedenfalls mit der Hand zustimmend gewinkt, denn Ilse öffnete ohne Weiteres die Thür und ließ die Lastträger eintreten. … Diesmal mußte sie mich genau so, wie gestern Morgen auf dem Dierkhof, über die Schwelle schieben, denn ich stand wie versteinert. … Mein an das gleichförmige Graubraun und das ununterbrochene Blüthenroth der Haide gewöhntes Auge flog im ersten Augenblick völlig verständnißlos über das Farbenmeer hin, das den weiten Plan da vor mir förmlich übergoß. Es war mir unmöglich, zu denken, daß diese tausendfarbig gemischten oder auch in scharf abgegrenzten Nüancen hinfließenden breiten Ströme Blumen nichts als dicht aneinandergedrängte vielgestaltige Blumenkronen und Dolden sein könnten. … Jetzt erst begriff ich, wie menschliche Phantasie die Wunder der Märchenwelt hatte ersinnen mögen – wie eine ungeahnte einsame Zauberinsel schwamm dieses köstliche Blumenfeld inmitten der neuen Welt, die mir bis zu diesem Augenblick so häßlich und graubestaubt erschienen war.

Neben meinen Füßen streckte sich ein Beet voll lilablauer Heliotropen hin; ihr starker Vanillenduft hing schwer in den Lüften und versetzte mich in eine Art von Rausch. … Vergessen waren die stauberfüllten heißen Straßen und die widerwärtigen Reise-Eindrücke, vergessen der gräuliche Wachtparadenlärm, die höhnenden Gassenjungen und das Grauen vor der Hinterstube! Mein Hut saß nicht mehr wie festgemauert auf dem Kopfe – ich warf ihn hoch in die Luft.

„Ach, Ilse, ich möchte mich gleich mitten in die Blumen hineinwerfen, daß sie über mir zusammenschlügen!“ jubelte ich auf.

„Ja, Du wärst’s im Stande,“ meinte sie trocken, fand es aber doch gerathen, mich am Rockzipfel festzunehmen.

Das ununterbrochene Bienengesurr und das Rauschen eines fernen Gewässers ausgenommen, war es sehr still und einsam in dem Garten. Die Vögel hatten sich verstummend in das kühle Gebüsch zurückgezogen, und die Menschen hielten Mittagsrast. Nur ein älterer Mann, dem Arbeitscostüm nach ein Gärtner, trat aus einem Gewächshaus, als wir vorüberkamen, und zeigte den Trägern den nächsten Weg nach der „Karolinenlust“. Ilse dankte ihm.

Wir kamen an einen Fluß, über welchen eine zierlich geschwungene Eisenbrücke führte. Er schnitt das ungeheure Blumenparterre ab; das jenseitige Ufer war mit dichtem Gebüsch bestanden, und wo es auseinanderriß, da sah man in das labende, grüne Düster unter dichtgeschaarten Baumgruppen hinein, auf sorgsam geschorene Rasenflächen und helle Kieswege.

Ich schrak zusammen und floh plötzlich hinter Ilse, als wir die Brücke überschritten hatten – ein Lachen scholl herüber, jenes harmonische Lachen, das ich vor vier Wochen am Hügel gehört hatte, und von welchem ich wußte, daß ich es nie bis an das Ende meiner Tage vergessen würde, … Trotzdem flüchtete ich, denn wo das Lachen, da waren ja auch die spöttischen Augen, vor denen ich mich entsetzlich fürchtete. Ilse’s breite, knochige Gestalt verdeckte meine kleine Person vollkommen; so rückten wir vorwärts durch dunkelschattige Alleen und kühle Bosquets – laute Ausrufe, Gelächter und plaudernde Mädchenstimmen drangen immer deutlicher bis zu uns, und plötzlich sahen wir bunte Reifen über dem Kiesrund wirbeln, auf das wir eben hinaustraten.

Einer der Reifen verirrte sich und flog in ein Bosquet. Eine junge, zartgebaute Dame und ein schlanker Mann in hellem Sommeranzug verfolgten ihn mit hochgehobenen Armen und Stöcken und drangen tief in das Gebüsch ein, wo er verschwunden – der schlanke Mann war der junge Herr Claudius, und das Mädchen, das neben ihm hergelaufen mit den feinbeschuhten, flüchtigen Füßchen und dem offen wehenden, blonden Haar, erschien mir mit ihrem silberhellen Gelächter ganz unausstehlich, obgleich ich ihr Gesicht nicht einmal gesehen hatte. … Mir war seltsam zu Muthe; ich grollte, und wußte nicht weshalb, und athmete doch froh und erleichtert auf, weil ich nun vorüberschlüpfen konnte, ohne dem jungen Herrn begegnen zu müssen.

Ich lugte neben Ilse hervor und sah noch mehr junge Damen umherstehen, eine aber überragte sie alle, eine hohe, starkgegliederte Gestalt in weißem Kleide, über das sie ein feuerfarbenes, mit Gold gesticktes Jäckchen geworfen hatte. … Sie hatte etwas Kühnes in ihren Bewegungen, und doch auch wieder jene stolze Lässigkeit, die aus Kraftbewußtsein und großer innerer Sicherheit hervorgeht.

„Alle guten Geister!“ rief sie in komischem Entsetzen und schlug die Hände zusammen, als Ilse, den Trägern voran, in ihren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 594. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_594.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)