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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Gesichtskreis trat, dann brach sie rücksichtslos in ein muthwilliges Gelächter aus.

Ilse wandte sich verständnißvoll um und sah nach dem Bettenfrachtstück zurück, das ja so herausfordernd und lächerlich über dem Kopf des Trägers schaukelte.

Im Nu waren wir von den sämmtlichen Damen umringt.

„O Herr Jesus, Lenore, was zerrst Du mich denn immer und hängst mir am Rocke wie ein kleines Kind!“ schalt Ilse unwillig; sie schüttelte mich ab und zog mich mit einem energischen Ruck an ihre Seite.

Wie schämte ich mich! In einer Hand hielt ich den Hut und in der anderen die große, weiße Halskrause, die sich, Gott weiß wie, von meinem Halse losgemacht hatte. … Hätte ich am Pranger stehen müssen, mein scheues Gefühl würde sich nicht mehr gekrümmt und gewunden haben, als jetzt unter allen diesen fremden, neugierigen Mädchenaugen!

„Ach, eine kleine Zigeunerin!“ riefen zwei Stimmen auf einmal, als ich befangen den Kopf hob und die Augen aufschlug.

„Ei, warum nicht gar auch – ein Zigeunermädchen!“ sagte Ilse tief beleidigt. „Es ist dem Herrn von Sassen sein leiblich Kind –“

„Wie, die Mumie hat auch Kinder?“ unterbrach sie die große junge Dame überrascht, und um ihre rothen Lippen zuckte es fortgesetzt in verhaltenem Muthwillen. Die Anderen aber zogen sich ein wenig zurück und sahen mich auf einmal mit ganz anderen, ich möchte sagen, freundlich ehrerbietigen Blicken an.

In diesem Moment kam auch der junge Herr über den freien Platz her. Ich sah auf meine Schuhe, die ihre plumpen Spitzen keck über den hellen Kies hinstreckten, und unwillkürlich zog und zerrte ich an meinem schwarzen Rock, um ihn, wenn auch nur um einen halben Zoll, zu verlängern.

Der Herr warf den Reifen im Weiterschreiten hoch in die Luft und fing ihn stets mit einer sehr gewandten, graziösen Bewegung wieder auf, so viel Mühe sich auch die junge Dame neben ihm geben mochte, das hübsche, bunte Ding mit ihren weißen Händen zu haschen. … Da fiel sein Blick auf mich – er stutzte und kniff die großen braunen Augen prüfend zusammen; dann kam er spornstreichs auf mich zu.

„Was, der Tausend – das ist ja das Haideprinzeßchen!“ rief er erstaunt.

„Wer?“ fragte die hochgewachsene junge Dame mit großen Augen.

„Ei, Du weißt es ja, Charlotte – das Haideprinzeßchen! Ich habe Dir doch von dem kleinen barfüßigen Wesen erzählt, das wie eine Eidechse durch die Haide schlüpfte – freilich eine Eidechse mit einem Prinzessinnenkrönchen!“ Er lachte auf „Wie in aller Welt kommt denn die kleine Perlenverkäuferin hierher?“

Die Rücksichtslosigkeit, mit der er in meiner Gegenwart mich kritisirte, und das unverhohlene Erstaunen des stolzen jungen Herrn über meine Anwesenheit in seinem Garten schlugen den letzten Rest meines Selbstbewußtseins zu Boden; aber die Bezeichnung „Perlenverkäuferin“ machte mir auch das Blut stocken.

„Es ist nicht wahr!“ stieß ich heraus, „Ich habe Ihnen die Perlen nicht verkauft – Sie wissen doch, daß ich Ihre Thaler in den Sand geworfen habe!“ –

Charlotte lächelte und trat mit aufstrahlenden Augen rasch auf mich zu.

„Ach wie reizend – sie ist stolz, die Kleine!“ rief sie. Sie bog sich herab und strich mir mit ihrer großen schlanken Hand über das Haar, aber ungefähr so, wie man ein nettes Bologneserhündchen streichelt. „Was meinst Du zu der merkwürdigen Neuigkeit, Dagobert?“ sagte sie zu dem jungen Herrn. „Die Mumie hat Familie – das niedliche Ding da ist dem Doctor von Sassen sein Töchterchen –“

„Unmöglich!“ fuhr er in maßloser Ueberraschung zurück.

„Na, was ist denn dabei so erschrecklich zu verwundern?“ versetzte Ilse trocken. „Meinen Sie denn, weil die Kleine nicht auch solch eine Schabracke um hat“ – sie zeigte auf Charlottens elegantes Jäckchen – „da darf sie nun auch nicht vornehmer Leute Kind sein?“

Die junge Dame lachte wie ein Kobold – die schneidige Zurechtweisung schien sie höchlich zu amüsiren.

„Aber wie siehst Du auch aus, Lenore!“ schalt Ilse. „Es fehlt nur noch, daß Du Schuhe und Strümpfe ausziehst!“ Sie legte mir die Krause um den Hals, fuhr mit beiden Händen glättend über meinen Scheitel und band den Hut darüber. Ich sah ängstlich auf die umstehenden Damen; neben ihnen war ich mir der Lächerlichkeit meiner äußeren Erscheinung plötzlich sehr wohl bewußt – jetzt lachten sie gewiß; aber keine verzog eine Miene, sie sahen im Gegentheil so ernsthaft zu, als ob eine wirkliche Prinzessin da vor ihnen Toilette mache. Nur um Charlottens Mund zuckte ein unbezwinglicher Lachreiz.

„Armes Opfer!“ sagte sie in tiefen Tönen des Erbarmens. „Aber wie ist’s denn, bleibt Haideprinzeßchen bei dem Papa?“ setzte sie lebhaft hinzu.

„Versteht sich!“ entgegnete Ilse kategorisch. „Bei wem denn sonst? … Nun möchte ich aber bitten, uns vorbeizulassen – wir haben müde Füße. … Ist das dort endlich die Karolinenlust, oder wie das Ding heißen mag?“ fragte sie und zeigte auf einen mattweißen Streifen, der durch die Hecken und Baumkronen herüberdämmerte.

„Ich werde Sie führen,“ erbot sich der junge Herr sehr geschmeidig und höflich – er war vollständig umgewandelt; selbst seine Augen, die vorher mit unverkennbarem Ergötzen immer wieder über Ilse’s unselige Kopfbedeckung hingehuscht waren, erlaubten sich nicht einen einzigen spöttischen Blick mehr.

Mir schwoll das Herz. Was für ein Mann mußte mein Vater sein, daß schon sein Name allein hinreichte, Ilse und mir sofort Geltung und Achtung bei Anderen zu verschaffen!

Die Damen blieben grüßend zurück, und wir schritten in Begleitung des jungen Herrn schräg über das Kiesrund, in das Taxusgebüsch hinein.



10.

Es war nur ein kurzer Weg durch grüne, heimliche Dämmerung, aber ich ging ihn mit heftig pochendem Herzen. Ilse schritt tapfer voraus und wandte sich nicht um – kaum aber waren die hellen Mädchengestalten hinter dem Dickicht verschwunden, als sich der junge Herr rasch zu mir niederbog und mir tief und schelmisch in die unbewachten Augen sah.

„Zürnt mir Haideprinzeßchen noch?“ fragte er mit unterdrückter Stimme.

Ich schüttelte den Kopf – seltsam, daß ein paar halbgeflüsterte Worte Einen bis in’s tiefste Herz hinein erschauern machen konnte. …

Da lag sie plötzlich vor uns, die Karolinenlust! … Es würde mich nicht im Entferntesten befremdet haben, wenn dort aus einem der hohen Fenster Frau Holle genickt und mich aufgefordert hätte, ihr Federbett auszuschütteln und ihre Säle zu fegen. … Ein Zauber hielt mich bereits gefangen, und das Haus vor uns war durchaus nicht geeignet, ihn zu lösen und mich zu ernüchtern. … Was wußte ich damals von Renaissance- und Baroquestil! Das Feenhafte des Anblicks wurde mir nicht verkümmert durch die Kenntniß strenger Kunstregeln. Ich sah nur schöngeschwungene Linien, weich und biegsam, als seien sie aus Wachs und nicht aus Stein, in die Lüfte steigen. Ich sah Säulen, Pilaster und Gesimse reizend verknüpft durch verschwenderisch hingestreute Frucht- und Blumenschnüre, und zwischen ihnen die funkelnden, breiten Spiegelscheiben der Fester – ein Rococoschlößchen, so verschnörkelt und üppig geschmückt, wie es nur je der Zopfstil des vorigen Jahrhunderts ersonnen. Sein Spiegelbild dämmerte noch einmal auf in dem silberklaren Gewässer, das, umfangen von einem durchbrochenen Steingeländer, zu seinen Füßen lag. Der Teich und fächerartig hingebreitete, mit weißen Steinbildern und steifen Taxuspyramiden geschmückte Rasenflächen füllten das ziemlich enge Parterre, das ein breiter Weg ringartig flankirte; aber über feinen Kies breitete sich bereits wieder tiefer Baumschatten. – Wie eine Perle in grüne Wogen versunken, lag das Schlößchen heimlich geborgen inmitten der Waldbäume, die im Hintergrund hoch bergauf stiegen. Noch im Gebüsch huschte uns ein Silberfasan fast über die Füße, und vor dem Portal, im kühlen Schatten des Hauses, schritt ein Pfau und entfaltete sein edelsteinflimmerndes Gefieder, während ein aschgrauer Kranich auf einem Bein unbeweglich neben dem Teiche stand und träumerisch den nackten, rothen Hinterkopf nach vorn sinken ließ – er kam gravitätisch auf uns zu, fing an zu tanzen und machte die lächerlichsten Verbeugungen, als sei er der Ceremonienmeister des Schlosses – Wunder über Wunder für meine unverwöhnten Augen!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 595. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_595.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)