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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


als Charakterdarsteller und Regisseur am alten königstädtischen Theater eine höchst geachtete Stellung einnahm, hatte sich Rudolph Genée von den Bänken des Gymnasiums zum grauen Kloster auf einen Stuhl im Hinterzimmer des Professor Gubitz befördert und schnitt in Holz. Beim ersten Dichter der Holzschneidekunst und dem mehr als fünfzig Jahre langen (erst jüngst verstorbenen) Theaterkritiker für die Vossische Zeitung gingen die Mimen und wir Literaten fleißig aus und ein. Dies brachte den jungen Eleven schnell vom Holzwege auf die Bretter, welche die Welt bedeuten, erst mit kleinen Bluetten auf verschiedene Bühnen, dann mit der phantastischen Komödie „Das Wunder“ auf das Berliner Hoftheater. Dies „Wunder“ war nicht nur des Glaubens, sondern auch sein liebstes Kind und bei Weitem die anerkannt beste Bühnendichtung Genée’s. Mit dem „neuen Timon“, „Bei Roßbach“ u. s. w. erschien er auf glücklichem Boden der Wirklichkeit; aber sein Genie drängte zu der wahren Entwickelung, die freilich erst nach mehrjährigen Kämpfen in journalistischer Thätigkeit, Redaction der Danziger Zeitung, und später der Herzoglichen Coburger, zur freien Blüthe hervorbrach. Schon in Coburg begann er kritisch-dramatische Shakespearevorträge. Sein „Frauenkranz“, psychologisch-ästhetische Schilderungen weiblicher Charaktere deutscher Bühnendichter, war eine gute Grundlage für diese Blüthe. Aber um immer und überall blos zu kommen, zu lesen und zu siegen, dazu gehört mehr. Einen Theil des Räthsels löst uns sein erwähntes Buch. Wie tief und gründlich hat er den Shakespeare von den Zeiten vor dem dreißigjährigen Kriege an durch die Geschichte und die Herzen deutscher Dichter ausgeforscht! Wie warm und klar pulsirt sein Geist aus dieser Gelehrsamkeit, aus seiner und dieser deutschen Dichter Begeisterung hervor! Diese tiefe Kenntniß und die hohe Begeisterung erklärt viel, aber noch nicht das Wesen der glänzenden Erfolge. In Berlin mußte er seine Vorträge drei Mal verlängern und, dringend eingeladen, auf einzelne Vereine und benachbarte Städte ausdehnen. Bald darauf verkündeten in Posen Theaterzettel, daß wegen des Genée’schen Vortrags ein berühmtes Gastspiel aufgeschoben werden müsse. In Dresden, wo seit ein paar Jahren Genée sein Domicil genommen, ist er mit seinen Erfolgen von Jahr zu Jahr in weitere Kreise gedrungen. Ebenso hat er ganz neuerdings in Leipzig so schnell und entscheidend zu siegen verstanden, daß – ein seltener Fall! – der große Saal der Buchhändlerbörse seine Pforten öffnen mußte, damit die Hörlustigen alle Platz finden konnten.

Rudolph Genée.

Diese Erfolge erklären sich aus Genée’s eminenter Begabung, Shakespeare’s Riesenschöpfung, die Niemand mehr auf der Bühne darstellen kann, dieses sprudelnde Spiel des tragischsten und lächerlichsten Humors aus seiner einzigen Persönlichkeit und der Methode seines Vortrags packend und plastisch zu dramatischer Geltung zu bringen. Zudem sind die gebildeten Geister unserer Zeit verschmachtet zwischen den Maculaturhaufen unserer Politik und schöngeistigen Strohdreschens, in diesen uniformirten Gesellschaften mit künstlich geschwollenen Hinterköpfen und Hintertheilen, wandelnden Modejournalfiguren und schwarzschwänzigen Schwippen, in diesen Theatern, wo entweder die zu hörende Dichtung durch Decorationsschwindel entwürdigt wird, oder Offenbach, Oper und Ballet Offenbarungen sind. Da kommt Genée und bringt immer auch das vollkommenste Personal von Shakespeare-Darstellern in sich selbst mit, Bühne, Verwandlungen – Alles und noch mehr. Er beginnt mit einführenden, einfachen Worten und erleuchtet und erwärmt die Zuhörerschaft für Würdigung der genialen Gestalten und Gedanken. Das Stück hat die und die besondere Wichtigkeit für unsere Bühne und Literatur, diese und diese psychologische, geschichtlich-tiefe Bedeutung. So und so hängen die einzelnen Dramen zusammen, beispielsweise Lear, Macbeth und Hamlet als Offenbarungen alt-nordgermanischer Entwickelung und Geschichte. Dabei wird auf die localen Farbentöne nordischer Landschaft hingewiesen.

Indem er zum Beispiel den geistigen Vorhang zum Hamlet hebt, läßt er unsern Blick über die Terrasse des Schlosses zu Helsingör schweifen. In kalter Nebelluft mit farblosem, gespenstischem Mondschein ruft die Wache weithin verhallend durch die nächtliche Stille: „Halt! Wer da?“ Damit sind wir mitten im Stück und begreifen dessen Gespenst. Die nun folgenden Dialoge und Personen hören und sehen wir Jeder auf seinem Phantasietheater. Der Tanz der Hexen Macbeth’s, wie sie auf öder, düsterer Haide zwischen Sümpfen wie Schatten auf- und niedersteigen, wird durch die schildernden Einleitungsworte dramatisch viel wirksamer als durch die größtentheils verfehlten Darstellungen auf der Bühne. Den grauenvollen Mord sehen wir nicht dargestellt; aber durch Genée’s Schilderung des Schloßhofes werden der Mörder und dessen geistige Urheberin, wie er sie nachher sprechen läßt, leibhaftiger als etwa durch Herrn Lehfeld und Mad. Wagner. Den Riesen unter Shakespeare’s Giganten, „Coriolanus“, kann Niemand auf der Bühne darstellen. Genée läßt ihn geistig über alle Häupter hervorragen, und die drei Volksscenen, wie die des Helden und seiner Mutter, ja das bloße Herannahen unerhörten, furchtbaren

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 836. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_836.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)