Seite:Die Gartenlaube (1871) 844.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

Wie ich mit meinen versagenden Füßen die Beletage wieder erreicht habe, kann ich bis heute nicht sagen, ich weiß nur, daß mir war, als sei ich plötzlich von einem Wirbel erfaßt und da hingeschleudert worden, wo ein dunkler Knäuel, droben vor der untersten Treppenstufe lag.

Herr Claudius stand bereits wieder auf seinen Füßen; er hielt sich mit der Hand am Treppengeländer fest und wandte mir sein vom Mond beschienenes Gesicht zu – es war mit einer fahlen Blässe bedeckt.

„Wir sind unglücklich gefallen,“ sagte er, noch athemlos von der Anstrengung, und deutete auf meinen Vater. „Er ist bewußtlos, und ich kann ihn nicht weiter bringen. Arme, arme Lenore, Ihre Füße tragen Sie nicht, und doch müssen Sie mir Hülfe holen.

Nun rannte ich durch die Gärten – hinter mir schlugen die feurigen Zungen aus den Fenstern der Bibliothek und schwarze, dick aufschwellende Rauchwolken zogen über die Baumwipfel hin, mir nach.

„Feuer in der Karolinenlust!“ schrie ich in die Hausflur hinein.

Im Nu war das ganze Vorderhaus rebellisch. Allgemeines Entsetzen, als die Herbeilaufenden in den Hof traten und über der Pappelwand den rothglühenden Dampf in das ruhige, stete Silberlicht des Himmels hineinlohen sahen. Wer Hände hatte, ergriff Kübel und Eimer und aus der Remise wurden zwei große Handspritzen gehoben. Man hatte auch in der Seitenstraße den Brand bemerkt; durch das Thor stürmte ein Menschenhaufe um den andern – in wenigen Minuten wimmelten die Gärten und der Platz vor der Karolinenlust von Rettenden, die das Eis auf Teich und Fluß einschlugen und Wasser in das brennende Stockwerk schleppten.

Als ich zurückkehrte, lehnte Herr Claudius am Treppengeländer; mit seiner Rechten drückte er den linken Arm gegen die Brust. Ich konnte nicht sprechen vor Jammer und bog mich über meinen Vater, dessen Kopf auf der untersten Treppenstufe lag. – Herr Claudius hatte ihm seinen Shawl als Polster untergeschoben. Die Augen waren geschlossen, und das eingefallene Gesicht sah so blutleer und wächsern aus, daß ich meinte, er sei todt – aufstöhnend schlug ich die Hände vor das Gesicht.

„Er ist nur betäubt, und so viel es mir möglich war, zu untersuchen, hat er auch kein Glied gebrochen,“ sagte Herr Claudius – wie lernte ich diese ruhig gelassene Stimme, um deretwillen ich ihn einst einen Eiszapfen gescholten, in den Augenblicken unaussprechlicher Angst und Seelenqual schätzen! An ihr richtete ich mich sofort auf.

„Hinunter in Herrn von Sassen’s Zimmer!“ gebot er den Leuten, die den Gestürzten vom Boden aufnahmen. „Es liegt weit ab – das Haus ist massiv, und Wasser und rettende Hände sind genug da – bis dahin dringt die Feuersgefahr nicht mehr!“

Ein Menschenstrom wogte an uns vorüber, die Treppe hinauf.

„Und Sie?“ sagte ich zu Herrn Claudius, während wir seitwärts traten, und die zwei Männer, von Fräulein Fliedner geleitet, meinen Vater nach unserer Wohnung trugen. – „Ich sehe es wohl, Sie haben Schmerz, Sie haben sich wehe gethan! … Ach, Herr Claudius, wie schwer müssen Sie dafür leiden, daß Sie meinen Vater und mich in Ihr Haus aufgenommen haben!“

„Meinen Sie?“ – Ein fast sonniges Lächeln verdrängte für einen Moment den Zug des Leidens, der seine Brauen faltete. „Ich rechne anders, als Sie denken, Lenore. Ich kenne die weise Einrichtung sehr gut, nach welcher wir erst verschiedene Stadien durchlaufen müssen, ehe wir in den Himmel eingehen dürfen – mit jedem kommen wir dem Ziele näher, und dafür sei er gesegnet.“

Er stieg in das brennende Stockwerk hinauf, und ich eilte zu meinem Vater. Er lag still und unbeweglich auf seinem Bett; nur als eine Feuerspritze drüben donnernd über die Brücke fuhr und unter heftigem Getöse vor dem Hause hielt, hob er die Lider und sah mit einem umschleierten, völlig verständnißlosen Blick umher. Von diesem Augenblick an flüsterte er unaufhörlich vor sich hin, ganz sanft und sacht. Fräulein Fliedner legte ihm kalte Tücher um den Kopf, das schien beruhigend auf ihn zu wirken. Hülfe und Beistand fehlten mir nicht. Auch Frau Helldorf, die den Claudiusgarten seit jenem verhängnißvollen Sonntagmorgen nicht wieder betreten, hatte die Angst und Scheu vor einer Begegnung mit ihrem Vater überwunden, und war zu mir herübergekommen.

Ich saß neben dem Kranken und hielt seine glühende Hand in der meinen. Sein gespenstiges Murmeln, das auch nicht für einen Augenblick abriß, der Anblick seines Leidensgesichtes, von welchem jede Spur eines selbstständigen Denkens für immer weggewischt schien, dazu die folternde Angst um Herrn Claudius, den ich droben in den brennenden Räumen wußte – das Alles versetzte mich in einen Zustand stiller Verzweiflung.

In der Zimmerecke brannte ein verdecktes Nachtlicht – tiefe Schatten webten um das Krankenbett; desto heller breitete sich der Platz vor den Fenstern hin. Ueber die versilberte Baumwand drüben wogten wie flatternde Fahnen die Schatten der Rauchwolken; zischend fuhr der funkelnde Wasserstrahl der Feuerspritze aus dem Menschengewimmel hinauf – sie zerstoben und duckten nieder, um sich gleich darauf, zu meinem bangen Schrecken, majestätisch wieder aufzublähen … „Habt Acht!“ scholl es fort und fort aus dem Gemurmel und Gebrause – gerettete Gegenstände, Vasen, Spiegel, Marmorfiguren wurden vorübergetragen und bei der Diana niedergelegt – hohe Bücherstöße reckten sich an der Göttin empor, und die umstehenden Polstermöbel und glänzenden Tischplatten sahen wunderlich genug aus in der schneefunkelnden Winterlandschaft.

Allmählich verdünnten sich die intensiv schwarzen Rauchstreifen schleierartig vor meinem starr hinausgerichteten Blick – der Lärm, trepp auf, trepp ab, klang gedämpfter – es wurden keine geretteten Sachen mehr vorübergetragen.

„Das Feuer ist nieder,“ sagte Frau Helldorf tiefaufathmend, und ich vergrub meine überströmenden Augen in die Bettkissen.

Charlotte kam herein. Ihr Kleidersaum schleppte zerfetzt am Boden hin, und die schweren Zöpfe hingen ihr unordentlich in den Nacken – sie hatte beim Retten wie ein Mann geholfen.

„Das ist ja ein schöner Abend für uns, Prinzeßchen,“ sagte sie tonlos und setzte sich neben mich erschöpft auf ein Fußbänkchen. Sie legte die Stirn auf meine Kniee. „Ach, mein armer Kopf!“ flüsterte sie, während die beiden Damen für einen Moment in das Nebenzimmer gingen. „Kind, wenn Sie wüßten, wie es in mir aussieht! … Glauben Sie wohl, daß mir droben der verzweifelte Gedanke gekommen ist, ob es nicht besser wäre, der Feuerstrom packe meine Kleider und mich mit, und die ganze Qual hier drinnen“ – sie preßte die Hände auf das Herz – „nähme plötzlich ein Ende? … Und an den versiegelten Thüren bin ich vorübergelaufen und habe gemeint, es müsse sich eine aufthun und meine Mutter die Arme herausstrecken, um ihr unglückliches Kind aus dem vorbeibrausenden Menschenschwarm hineinzuziehen. … Heute zum ersten Mal kann ich’s meinem Vater nicht vergeben, daß er uns so bedingungslos, so auf Treu und Glauben in die Hände seines Bruders geliefert hat! Und wenn er noch so furchtbar litt, er durfte nicht sterben, er mußte für uns leben – er hat feig gehandelt!“

Draußen verlief sich allmählich die Menschenmenge, es wurde stiller, und das Zischen der Wasserstrahlen, die noch von Zeit zu Zeit hinaufgeschickt wurden, drang schärfer an das Ohr. Und jetzt endlich kam auch der so heiß ersehnte Arzt. Während er den Kranken untersuchte und schweigend beobachtete, klang draußen eine gewaltige Stimme durch den hallenden Corridor und herein in das stille Zimmer.

„Habe ich’s nicht gewußt, Herr Claudius, daß dieses Hervorzerren der von Ihren Vorfahren wohlweislich vergrabenen heidnischen Götzenbilder dem Herrn ein Gräuel sein müsse?“ fragte der alte Buchhalter in seinem breitesten Prophetenton.

„Er ist unverbesserlich, der alte Fanatiker!“ murmelte Charlotte ärgerlich.

„Habe ich nicht vorhergesagt, daß das Feuer vom Himmel fallen würde?“

„Es ist nicht vom Himmel gefallen, Herr Eckhof,“ unterbrach ihn Herr Claudius hörbar ungeduldig.

„Sie mißverstehen das absichtlich, lieber Herr,“ sagte eine andere Stimme sanft.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 844. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_844.jpg&oldid=- (Version vom 19.2.2017)