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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


hinabstieg, desto mehr rollte mein Freund an dem mich haltenden Seile ab. Allein trotz dieser Vorsichtsmaßregel war es mir bei jedem Schritte, als schwebte mein Körper in der Luft wie ein Drache, den die Knaben loslassen, so daß mich, wäre das Manöver bei hellem Tage unternommen worden, sicher alle Zuschauer für einen verlorenen Mann gehalten hätten. Nichtsdestoweniger aber kam ich unversehrt unten im Graben an.

Nachdem mir d’Alègre alle unsere Habseligkeiten herabgesandt und ich dieselben auf einer vorspringenden Stelle über dem Wasser trocken untergebracht hatte, band er seinerseits sich an das Seil fest, gab mir das Signal, daß er die Leiter betreten hatte, und ich vollzog nun unten die gleichen Manipulationen, die er oben für mich ausgeführt hatte, bis auch er die gefährliche Operation glücklich überstanden und neben mir das Wasser des Grabens erreicht hatte. Während dieser ganzen Zeit konnte die Schildwache keine dreißig Fuß von uns entfernt sein. Da es nicht regnete, patrouillirte sie auf dem Wallgange hin und her, und so war es uns nicht möglich, über den Wall hinweg den Weg nach dem Garten des Gouverneurs einzuschlagen, wie unser ursprünglicher Plan lautete. Wir mußten somit von unseren Eisenstangen Gebrauch machen. Ich nahm den Zwickbohrer zur Hand und einen der Stäbe auf die Schulter. Mein Gefährte belud sich mit dem andern. Die Branntweinflasche hatte ich auch nicht vergessen, und so ging es direct auf den Theil des Wassers los, welcher den Bastillegraben von dem am Thore Saint Antoine scheidet, zwischen dem Garten und der Wohnung des Gouverneurs. Das Wasser stand darin sehr hoch, es ging uns bis unter die Arme.

Als ich eben meinen Bohrer zwischen zwei Steine angesetzt hatte, kam eine Patrouille herangeschritten mit einer großen Laterne auf langer Stange, etwa zehn bis zwölf Fuß über unsern Köpfen. Um uns zu verbergen, mußten wir uns noch tiefer in’s Wasser hinabducken. Indeß auch diese Gefahr ging glücklich vorüber. Unsere Bohrarbeit begann, und bald war ein gewaltiger Stein aus dem Walle herausgegraben.

‚Land! Land!‘ jubelte ich d’Alègre zu, denn nun hegte ich keinen Zweifel mehr am Gelingen unserer Flucht. Wir feierten diesen Moment durch einen Trunk aus unserer Schnapsflasche, dann fiel der zweite und der dritte Stein! Die zweite Runde marschirte über uns dahin: von Neuem tauchten wir in das Schlammwasser hinab. Und dies Manöver hatten wir alle halbe Stunden zu vollführen! Bis gegen Mitternacht lag ein Haufen Steine vor uns, der einen Handkarren gefüllt haben würde.“

Einmal kam die Schildwache so nahe heran, daß sie La Tude auf den Kopf spuckte. Schon bildete er sich ein, sie seien gesehen worden, aber der Soldat ging ruhig weiter. Von einer neuen Brandweindosis gestärkt, brachen sie mit gehobenen Kräften Stein um Stein aus der Wallmauer heraus, bis die Bresche weit genug war, ihnen Durchlaß zu gewähren. Wenn man erfährt, daß die Stärke der Mauer vier und einen halben Fuß ausmachte, so wird man ermessen können, welches fast fabelhafte Werk die beiden Männer in der kurzen Zeitspanne einer Nacht zu Stande brachten. Während La Tude den Koffer herbeiholte, kroch d’Alègre durch den ausgebrochenen Gang in’s Freie hinaus. Mit welcher Freude legten sie endlich ihre frischen Kleider an! Sie waren ja auferstanden aus ihrem Grabe!

Aber noch drohten ihnen Gefahren in Hülle und Fülle. Sechszig Schritte vom Graben, auf dem Wege nach Bercey, geriethen die Beiden mit ihrem schweren Koffer in der Dunkelheit in das tiefe Bett einer Wasserleitung. Im ersten Schrecken ließ d’Alègre den Koffer fallen und klammerte sich an La Tude an, welcher nur mit knapper Noth seinen Freund und sich aus dem Wasser emporzog. Endlich standen sie wieder auf festem Boden. Es schlug endlich vier Uhr Morgens. Voller Rührung umarmten sie sich, dann sanken sie auf die Kniee nieder und dankten Gott für ihre Rettung. Der erste Miethwagen, dem sie begegneten, ward angehalten. Ohne viel Umstände sprangen sie hinein und ließen sich nach dem Kloster St. Germain des Prés fahren, wo sie ihre nächste Zuflucht fanden. Als Bauern verkleidet, schlugen sie einen Monat später, auf verschiedenen Wegen, die Route nach der Grenze ein. Sie erreichten das Ausland, aber d’Alègre ward in Brüssel, La Tude in Amsterdam wieder ergriffen.

Zum zweiten Male der Bastille überwiesen, wurde der Letztere, an Händen und Füßen gefesselt, in einen unterirdischen Kerker geworfen. Indeß auch jetzt verließ ihn die Hoffnung nicht. Im Jahre 1762 schrieb er an die Marquise von Pompadour: „Ich leide nun schon vierzehn Jahre, haben Sie endlich Erbarmen, denken Sie an das Blut unseres Heilands, seien Sie ein Weib, Madame, fühlen Sie Mitleid mit meinen Thränen und mit denen einer alten siebenzigjährigen Mutter!“

Die ruchlose Buhlerin hatte kein Mitleid. Grausam wandte sie ihr Antlitz von dem Unglücklichen ab, um ihren Freuden nachzugehen. La Tude ließ sich durch dies Alles nicht beugen. Sein erfinderischer Kopf sann fort und fort auf Mittel zu seiner Befreiung. Durch die Freundlichkeit des Gefängnißgeistlichen im Stillen mit Papier, mit Tinte und Feder versorgt, schrieb er auf kleine Zettel, welche er durch die Gitter seines Kerkers nach einem Hause in der Straße Saint Antoine fliegen ließ. In demselben wohnten ein paar alte Damen, denen das Schicksal des Armen zu Herzen ging. Eines Morgens, es war im April des Jahres 1764, sah La Tude am Fenster dieser Damen ein Stück Papier angeheftet, auf dem in großen Buchstaben geschrieben stand:

„Gestern, am 17., ist Frau v. Pompadour gestorben.“

Auf der Stelle wandte sich La Tude an den Minister und bat um seine endliche Freilassung. Der Minister wollte wissen, auf welchem Wege der Gefangene die Kunde vom Tode der Allmächtigen erhalten habe. La Tude verweigerte jedwede Auskunft. Man versenkte ihn denn wiederum in ein unterirdisches Verließ und transportirte ihn im August in Ketten nach Vincennes. Ein Jahr darauf, an einem sehr nebeligen Tage, stieß La Tude, während er auf dem Walle promenirte, die Schildwache bei Seite, entwaffnete seine Wächter und entsprang. Er wurde wieder festgenommen und in ein schauderhaftes Gefängniß gesteckt. Nach der Thronbesteigung Ludwig’s des Sechszehnten interessirte sich der edle Malesherbes für den Gefangenen. Man erklärte ihn für wahnsinnig und schickte ihn nach Charenton. Nach zwei Jahren wurde er aus dem Irrenhause entlassen und ihm die Freiheit gegeben unter der Bedingung, daß er Paris nicht wieder betrete.

La Tude war so thöricht, diese Bedingung außer Acht zu lassen. Man nahm ihn abermals fest und sperrte ihn endlich in einem Käfig in Bicêtre ein. Erst 1784 erhielt der unglückliche Dulder, auf die rastlose Verwendung einer hochherzigen Frau, einer Madame Le Gros, seine Freiheit factisch wieder und zugleich eine kleine Pension. Nach der Zerstörung der Bastille wurde La Tude der Löwe des Tages. Sein Name glänzte fast in allen patriotischen Reden. Mit seinem Bildnisse wurden seine Leitern und Werkzeuge im Louvre öffentlich ausgestellt. Die Nationalversammlung bewilligte ihm ein Jahrgeld von dreitausend Franken; zugleich wurden die Erben der Marquise v. Pompadour verurtheilt, ihm eine Entschädigung von sechzigtausend Livres zu zahlen. Von diesen Summen empfing La Tude jedoch nur zehntausend Franken. Er schrieb seine Memoiren, denen unser Buch seine Angaben entlehnt, und starb, verschollen und vergessen, erst 1805 als ein Greis von achtzig Jahren, trotz aller der unsagbaren Leiden, die er in seinen vielen Kerkern erduldet hatte.

„Fünfunddreißig Jahre meines Lebens,“ heißt es in seinen Denkwürdigkeiten, „habe ich im Gefängnisse verseufzt, zwölftausenddreiundsechszig Tage in verschiedenen Kerkern schmachten müssen. Während dieser endlos langen Tage lag ich ohne Hülle auf Stroh, von ekelhaftem Gewürm gequält und auf ein winziges Quantum von Brod und Wasser reducirt. Dreitausendsiebenundsechzig Tage stak ich in feuchten, stinkenden Verließen und zwölfhundertachtzehn dieser gräßlichen Tage und noch gräßlicheren Nächte scheuerten Ketten meine Hände und Füße wund. Ein solches Uebermaß von Pein, wäre das nicht zu viel selbst für den abscheulichsten der Verbrecher? Und ich hatte nichts begangen als einen unbesonnenen Jugendstreich!“

Wenn man dergleichen Leidensgeschichten liest, wie könnte man da noch zweifeln, daß das Volk Grund hatte zu seiner Revolution und daß alle Gräuel derselben noch lange nicht die Unthaten des Absolutismus aufwogen? Daß die Bastille das erste Opfer der Volkswuth wurde, wer fände das nicht begreiflich?

H. Sch.

 

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 855. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_855.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)