Verschiedene: Die Gartenlaube (1871) | |
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Draußen fuhr der Wind auf und machte die dürren Zweige des Ebereschenbaumes leise an die Scheiben klopfen; ich wich zurück und legte die Hand über die Augen – unter dem Fenster stand ja die Bank, auf welcher ich Tante Christinens Brief zum ersten Male gelesen. Nun hatte ich sie in der That auf den Knieen liegen sehen, die märchenhafte Gestalt, schöner als die schönsten Blumenleiber, die in meinem schönsten Kinderbuche aus Lilien- und Rosenkelchen emporwuchsen. Und aus den weißen Atlaswogen hatten sich zwei zarte Arme ausgestreckt, um den einst tief beleidigten Mann schmeichelnd wieder an das treulose Herz zu ziehen. … Ich schlug mich unwillkürlich mit den geballten Händen gegen die Brust – ich war schwach und feig gewesen in jenem verhängnißvollen Augenblicke, ich durfte nicht hinausgehen, meinen Kopf mußte ich, wie wenige Stunden zuvor, fest an seine Brust legen – er selbst hatte mir diesen Platz angewiesen, und ich wußte, daß es in Zärtlichkeit geschehen war; ich hatte es an dem Klopfen seines Herzens, an der leise zitternden Hand gefühlt, die, während ich gebeichtet, immer wieder behutsam, aber zartschmeichelnd über meine Locken hingeglitten war. Ich durfte nicht dulden, daß diese rosig weißen Hände ihn berührten, dann wäre vielleicht der böse Zauber nicht über ihn gekommen. …
Jetzt war es wohl hell im Vorderhause, so hell, wie an jenem Theeabend, wo die Prinzessin dagewesen. … Und er saß am Flügel – vergessen war die Zeit, wo er um ihretwillen keine Taste mehr berührt hatte; sie sang ihm ja jetzt die berauschende dämonische Tarantella. … Und binnen wenigen Wochen schritt eine neue Hausfrau durch die hallenden Gänge des Claudiushauses – nicht im klaren Stirnschleier, wohl aber mit langer seidenrauschender Schleppe, Blumen in das Haar gestreut und ein Trällern auf den Lippen – und es wurde lebendig in den stillen Gesellschaftszimmern, Gäste flogen ein und aus, und Champagnerpfropfen knallten, und Niemand verdachte dem Manne seine Wahl, die Frau war ja noch „von hinreißender Schönheit“. … Nun wurde er mein Onkel – ich sprang auf und rannte außer mir auf und ab … nein, ich war kein sanftes Engelsgemüth, ich konnte nicht mit heißen Thränen in den Augen lächeln, ich wehrte mich aufschreiend gegen das Messer, das mir erbarmungslos immer wieder in der Brust umgewendet wurde! … Nach K. kehrte ich nicht wieder zurück; ich wollte meinen Vater beschwören, einen andern Aufenthaltsort zu wählen – wie konnte ich je das Wort „Onkel“ über meine Lippen bringen? Nie, nie!
Das sanfte Klopfen draußen an den Scheiben verwandelte sich in ein heftiges Peitschen und Schlagen – der Frühlingssturm brauste über die Haide hin. … Nun hörte ich’s wieder, das Knistern und Knacken der alten Balken, das Schnauben und Pfauchen um die Ecken, und in den Eschenwipfeln das Gerassel der verdorrten Blätter, die, längst todt und modernd, sich doch noch unter gespensterhaftem Rauschen an die lebendigen Aeste angstvoll anklammerten. Der alte Dierkhof zitterte unter den wuchtigen Stößen, droben in den Dachluken ächzten die morschen Holzläden, und die Fensterscheiben klirrten leise, als ließe der Sturm feine, klingende Silberketten durch seine Finger laufen.
Ilse trat mit dem Hauslämpchen ein, um nach mir zu sehen.
„Hab’ mir’s gedacht, daß Du nicht schlafen kannst,“ sagte sie, als sie mich angekleidet auf dem Bett sitzen sah. „Kind, Du bist das alte Haidelied nicht mehr gewohnt – freilich, dort in den Bergen, da duckt sich der Sturm zahm nieder, er gefällt mir aber auch nicht halb so gut. … Gehe Du nur wieder in Dein warmes Bett – er thut Dir nichts!“
Freilich, der that mir nichts – vor ihm schützte mich der traute Dierkhof mit seinem Mantel! …
Nun war ich seit drei Tagen in der Haide, und die Stürme pfiffen und johlten Tag und Nacht in einem Athem über die weite Fläche hin. Mieke, Spitz und das Federvieh, Alles tummelte sich in der Tenne und sah vom geborgenen Platz aus durch das offene Hausthor den Unhold draußen vorbeijagen. Aber es wehte warm herein, und ich meinte, dann und wann fliege schon ein feiner Blumenathem auf seinen Schwingen mit. Heinz blieb auch auf dem Dierkhof, Ilse litt es nicht, daß er Abends bei „dem Gebrause“ in seine Hütte zurückkehrte. … Ach, wie war Alles anders geworden! Ich las nicht mehr vor, wenn wir auf dem Fleet saßen – die Märchen hatten keinen Reiz mehr für mich – und mit dem Erzählen aus der Stadt wollte es auch nicht gehen. So oft Ilse den Namen Claudius aussprach – und das geschah zu meiner Verzweiflung nur zu oft – da fühlte ich meine Kehle zugeschnürt; ich wußte es, sprach ich nur einmal den Namen selbst aus, da stürzte der mühsam aufrecht erhaltene Damm der Selbstbeherrschung unrettbar zusammen, und ich schrie, zum Entsetzen der beiden treuen Seelen an meiner Seite, meinen Schmerz in alle vier Winde hinaus. Heinz sah mich ohnehin stets scheu von der Seite an, er verstand mich und meine Ausdrucksweise nicht mehr recht, und Ilse erzählte mir lachend, er habe gesagt, ich sei nun ein wirkliches Prinzeßchen geworden, so ganz absonderlich, und er begriffe nicht, daß Ilse nicht auch die Vorhänge an die Fenster hänge und das vornehme Sopha in die Stube schöbe, wie es doch bei Fräulein Streit gewesen sei.
Am dritten Tag gegen Abend ließ der Sturm nach, er blies zwar noch immer gewaltig über die Ebene hin; aber länger litt es mich nicht mehr im Hause – ich sprang hinaus in das Wogen und Tönen und ließ mich hinüber nach dem Hügel tragen. … Ach ja, da stand sie noch mit festem Fuß, die liebe, alte Föhre, und als ich sie mit beiden Armen umschlang, da streute sie rieselnd einen Nadelregen über mich her. Und die Ginsterbüsche hakten sich an meine Kleider; aber die Stelle, wo man im vorigen Jahr das Hünengrab aufgebrochen, lag kahl zu meinen Füßen, und kleine Sandbäche rieselten von Zeit zu Zeit da hinab, wo auch die Menschenasche verschüttet worden war. … Ueber den Waldstreifen zuckten die flammenden Spieße der Abendröthe empor – morgen gab es abermals Sturm; war es doch, als wolle selbst das Toben in den Lüften eine Schranke zwischen mich und die Welt draußen ziehen. … Und dort wand sich der Fluß hin, neben welchem die drei Herren damals eilig gestrebt hatten, die öde Haide zu verlassen – da war die hohe, schlankmächtige Gestalt des „alten Herrn“ fest durch das Gestrüpp geschritten, während die verwöhnten Füße des schönen Tancred fast ängstlich den sammetweichen Rasenweg innegehalten hatten.
Jetzt war es todeseinsam da drüben – nein – ich hielt die Hand über die Augen, um das Wunder in der menschenleeren Haide besser anstarren zu können. Dort bewegte sich ein dunkles Etwas auf dem schmalen Sandweg, den Heinz mit dem Namen „Fahrstraße“ beehrte. Himmel, Ilse hatte ihre Drohung wahr gemacht und den Doctor kommen lassen! Mein bleiches Gesicht, mein niedergeschlagenes Wesen ängstigten sie ja unbeschreiblich. Der dunkle Punkt schwankte näher und näher; das rothe Abendlicht überfloß ihn grell – es war richtig die alte Kutsche, in welcher man den Arzt an das Sterbebett meiner Großmutter geholt hatte. Sie machte eine Schwenkung – wie eine Silhouette hoben sich das kräftig anziehende Pferd und die Kalesche vom Himmel ab; ich sah die Wagenfenster aufblinken, und den stämmigen Bauernkutscher auf dem Bock sitzen. … Plötzlich hielt der Wagen still, und ein Herr sprang heraus – und wenn die Gestalt dort vom blonden Scheitel bis zur Zehe herab streng verhüllt gewesen wäre, an dieser einen Bewegung hätte ich sie unter Tausenden heraus erkannt! … Meine Pulse stockten, ich biß die Zähne zusammen und starrte angstvoll auf die Wagenthür – jetzt mußte auch sie aussteigen, die schöne Frau im schwarzen Sammetmantel, den weißen Hermelin um die Schultern geschlagen – Onkel und Tante kamen, die Entflohene zurückzuholen – allein die Thür fiel zu, und der Wagen schwenkte um, nach dem Walde zurück. Herr Claudius aber schritt über die Haide her, direct auf den Hügel zu; ein weiter Mantel flatterte von seinen Schultern, und die blauen Brillengläser funkelten in der Abendsonne. … Ich ließ die Föhre los, breitete die Arme weit aus und wollte den Hügel hinabstürmen; aber ich ließ sie sofort wieder sinken – einen Onkel begrüßt man nicht leidenschaftlich – taumelnd im Sturme umfing ich die Föhre wieder und drückte meine Stirn an die harte Rinde.
Jetzt kamen die Schritte näher und näher – ich bewegte mich nicht, mir war es, als sei ich an einen Marterpfahl gebunden und müsse ausharren im lautlosen Schmerz.
Am Fuß des Hügels blieb er stehen.
„Auch nicht um einen Schritt kommen Sie mir entgegen, Lenore?“ rief er hinauf.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 866. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_866.jpg&oldid=- (Version vom 2.3.2018)