Seite:Die Gartenlaube (1872) 038.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

wurde nur in den Sommermonaten benutzt. Es war eine jener malerischen, aber für die Entfaltung eines großen und glänzenden Haushaltes ziemlich unbequemen alten Burgen, an die man Jahre des Baues und Hunderttausende an Kosten verschwendet hatte, um sie möglichst historisch zu restauriren, und damit ein romantisches Stück Mittelalter mitten in die Neuzeit zu versetzen. Doch der Graf liebte es als das Stammschloß seiner Familie, vielleicht auch wegen der unmittelbaren Nachbarschaft seines Bruders, und so war er denn auch diesmal, in Begleitung seiner Gemahlin, zu dem gewöhnlichen Sommeraufenthalt hier eingetroffen, und auch der junge Graf wurde in diesen Tagen erwartet. –

Bereits waren mehrere Wochen vergangen, seit der Gutsherr von Dobra, der bisher allein dort gewohnt, seine junge Schwester hatte zu sich kommen lassen. In dem äußeren Haushalt hatte deren Ankunft wenig oder gar keine Veränderung hervorgerufen, denn so großartige Summen der neue Besitzer auch auf seine Güter verwendete, so anspruchslos zeigte er sich in Allem, was seine Person und seine nächste Umgebung betraf. Das Schloß, ein großes und trotz seiner Verwahrlosung doch in vieler Hinsicht prachtvolles Gebäude, war unter allen Dingen das letzte, was sich seiner Aufmerksamkeit erfreute. Er hatte eben nur diejenigen Räume in Stand setzen lassen, die für seine persönlichen Bedürfnisse nothwendig waren, und denen sich in letzter Zeit noch die Zimmer für seine Schwester und deren Erzieherin beigesellten; alle die übrigen Gemächer standen leer und unbewohnt, und der höchst einfache Haushalt, dem nur die nothwendigste Dienerschaft beigegeben war, ging auch nach der Ankunft der beiden Damen ganz in gewohnter Ruhe und Regelmäßigkeit seinen Gang.

In diese Ruhe und Regelmäßigkeit aber kam nun Fräulein Lucie wie ein Wirbelwind hineingefahren. Sie ließ keinen Menschen und kein Ding in Ruhe, kehrte das Unterste zu oberst und brachte mit ihren Einfällen und Neckereien oft genug das ganze Haus in Aufruhr. Noch viel zu kindisch, um sich an den Bruder oder die Erzieherin anzuschließen, fand sie im Gegentheil in den halberwachsenen Knaben des Inspectors die willkommensten Spielcameraden, und diese hoffnungsvollen Sprößlinge hatten nicht sobald die Entdeckung gemacht, daß Alles, was die junge Dame anstiftete, ungestraft passirte, als sie ihr nach Kräften dabei halfen. Jetzt verging kein Tag, an dem nicht Diesem oder Jenem im Hause irgend ein Possen gespielt ward, dessen Urheber sich wohl errathen, aber niemals erwischen ließ, und Letzteres um so weniger, als gewöhnlich die gesammte Haus- und Hofdienerschaft, deren erklärter Liebling Lucie gleich vom ersten Tage an geworden war, mit im Complot steckte. Man trug das junge Fräulein geradezu auf Händen; und obgleich Niemand vor ihren Koboldstreichen sicher war, und ein Jeder gewärtig sein mußte, daß morgen die Reihe an ihn kommen werde: wo die braunen Locken flatterten und die blauen Augen strahlten, da war auch Sonnenschein und es gab Niemand in ganz Dobra, der es vermocht hätte, diesem Sonnenschein gegenüber auch nur eine Stunde lang ernstlich zu grollen.

Günther erfuhr in Folge dessen nur selten etwas von solchen Vorgängen. Durch seine Thätigkeit meist draußen festgehalten, fand er in der That nicht viel Zeit, sich um das Haus und um seine Schwester zu kümmern. Im Ganzen behandelte er sie mit ziemlicher Nachsicht, wie ein verzogenes Kind, dessen Launen und Thorheiten man hingehen läßt, so lange sie unschädlich sind, und denen man mit einem einfachen Verbot ein Ende macht, sobald sie anfangen, unbequem zu werden. Er ließ Lucie meistentheils gewähren, sobald es sich aber um irgend eine ernste Angelegenheit handelte, schob er sie ohne Weiteres als gänzlich überflüssig und unzurechnungsfähig bei Seite. Freilich wurde das Selbstgefühl der jungen Dame dadurch auf’s Tiefste verletzt, aber sie hatte bereits hinreichend erfahren, daß bei dem Bruder mit Bitten und Schmeicheln ebensowenig auszurichten war, wie mit Schmollen und Weinen, und diese Erfahrung war denn auch die einzige Rücksicht, die ihrem Uebermuth einen heilsamen Zügel auferlegte, der sich, sobald Bernhard nur den Rücken wandte, Alles erlaubte und auch Alles erlauben durfte. Dieser Mann mit seinem scheinbar so nichtssagenden Gesicht und seiner so gleichgültigen Ruhe, die nichts überstürzte, aber auch nichts verzögerte, und stets zur rechten Zeit und am rechten Orte eingriff, wußte, wie er ganz Dobra in Respect hielt, auch seine junge Schwester in Respect zu halten, und letzteres war nach der unumstößlichen Meinung von deren Erzieherin jedenfalls das Schwerere von beiden.

„Nein, Lucie, das geht denn doch etwas zu weit! Ich sollte meinen, wir hätten Alle schon genug von Ihren Koboldstreichen zu leiden gehabt, daß Sie nun endlich Ruhe geben könnten, aber dieser letzte übersteigt wirklich alle Begriffe!“

Die Erzieherin, welche diese Strafpredigt hielt, während sie in aller Majestät einer zürnenden Gouvernante vor ihrem Zöglinge stand, gehörte nun allerdings nicht zu jener Kategorie, die Lucie in ihrem Protest dem Bruder gegenüber so treffend gekennzeichnet hatte. Es bedurfte nur eines einzigen Blickes auf diese resolute Dame, um sie von dem Vorwurf der Nervosität ein für alle Mal frei zu sprechen, und wer die energischen Bewegungen sah, mit denen sie ihre Rede begleitete, kam auch nicht mehr in Versuchung, sie für steif zu halten. Fräulein Reich mochte bereits im Anfange der Dreißig stehen, konnte aber dessen ungeachtet noch für hübsch gelten. Groß und kräftig gebaut, mit starken, aber nicht unangenehmen Zügen, blond und helläugig war sie jedenfalls eine äußerst stattliche Erscheinung, und obgleich ihre Stimme jetzt in allen Tonarten des Zornes grollte, und sie dabei wie aus einem Donnergewölk auf ihre kleine zarte Pflegebefohlene herabblickte, machte dieser Zorn doch einen mehr komischen als widerwärtigen Eindruck, man konnte sich dabei des unwillkürlichen Gedankens nicht erwehren, daß es nicht so schlimm gemeint sei, als es aussah.

Fräulein Lucie saß in der Laube und zeichnete; sie hatte den Kopf tief auf die Arbeit herabgebeugt, ob aus Zerknirschung über die Strafpredigt, leider nicht die erste, die ihr gehalten ward, oder um das verrätherische Zucken ihrer Mundwinkel zu verbergen, ließ sich nicht entscheiden, jedenfalls zeichnete sie sehr eifrig und beachtete ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit nicht im Geringsten das Bitten und Schmeicheln ihres kleinen Hundes, der neben ihr auf der Bank lag und große Lust zum Spielen zeigte.

„Es ist himmelschreiend!“ eiferte die Gouvernante weiter. „Da hat die arme, alte Person, die Wirthschafterin, unglücklicherweise verrathen, daß sie abergläubisch ist, und seitdem spukt es allabendlich im ganzen Schlosse, auf allen dunklen Gängen und finsteren Corridoren, so daß Niemand von den Leuten sich mehr aus der Thür wagt und Frau Schwast beinahe krank geworden ist vor Schreck. Sie werden noch einmal ein Unglück anrichten mit ihren heillosen Einfällen!“

„Es spukt im Schlosse?“ fragte Lucie, indem sie den Kopf hob und ihre Gouvernante mit der unschuldigsten Miene von der Welt anblickte. „O, das ist ja merkwürdig!“

„Merkwürdig? Abscheulich ist es! Denken Sie, ich wüßte nicht, wer die gottlosen Jungen des Inspectors wieder zu der Gespensterkomödie angestiftet hat und wer eigentlich den ganzen Geisterapparat erfindet und leitet? Aber ich werde Herrn Günther die Sache vortragen, und dann gnade Gott den Gespenstern, wenn ihm eins davon in die Hände fällt!“

„Ach nein, sagen Sie nur Bernhard nichts davon!“ rief Lucie erschreckt; „es soll nicht mehr spuken, gewiß nicht mehr!“

Fräulein Reich schüttelte grollend das Haupt. „Also läßt man sich doch endlich zum Geständniß herbei. Sie sollten sich schämen, Lucie, so mit den Knaben herumzutollen, während Sie doch schon eine erwachsene junge Dame sein wollen, aber Ihnen steckt die Kinderei noch ganz und gar im Kopfe. Das ist überall und nirgends, das dreht und wendet sich mir unter den Händen mit Lachen und Schmeicheln, und während ich Sie wegen des einen Postens zur Rede stelle, sinnen Sie schon wieder auf einen neuen, der sicher hinter meinem Rücken ausgeführt wird. Das ganze Haus hilft Ihnen ja leider Gottes dabei, Alles haben Sie mit Ihren Thorheiten angesteckt, Alles ist im Complot mit Ihnen, man müßte hundert Augen und Hände haben, um solch einer Quecksilbernatur Herr zu werden. Sie werden mir das Zeugniß geben, daß ich nicht zu den Schwachen und Nachsichtigen gehöre, ich hatte auf der Schule in N. eine ganze Classe widerspenstiger, lärmender Schüler in Ordnung zu halten, und ich habe sie in Ordnung gehalten, aber mit einem solchen Wildfang wie Sie fertig zu werden, das versuche eine Andere – ich gebe es auf!“

„Was geben Sie auf?“ fragte plötzlich Günther’s Stimme, der unbemerkt den Gang heraufgekommen war, und jetzt in die Laube trat. Lucie fuhr von ihrem Sitze empor und sprang ihm entgegen, ohne sich im Mindesten darum zu kümmern, daß sie dabei die Zeichenmappe vom Tische herabriß und die Blätter nach allen Richtungen hin auseinanderflatterten.

„Bernhard, vor einer Stunde war ein Bote des Baron

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_038.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)