Seite:Die Gartenlaube (1872) 046.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

also fast vor unserer Thür, die Kugeln fielen wie ein dichter Hagel. Sterbende sanken auf Leichen, unter welchen auch Weiber und Kinder. Es war entsetzlich zu sehen und ich sah es. Das Geschrei ‚Vive la Ligne!‘ wurde immer allgemeiner und der Ruf ‚Vive la Commune!‘ tönte nur noch mit langen Unterbrechungen. Mein Gatte war nicht zu Hause. Er lief wie ein gehetztes Wild in allen Stadttheilen herum und mußte sich ein Nachtlager erbetteln. Die Häscher waren auf seiner Spur; ich war in Verzweiflung. So kam der Freitag heran. Ich sah ihn im Geheimen in der Rue Chapon und beschwor ihn, bei einem bewährten Freunde sich so lange zu verbergen, bis die Wuth der Sieger sich gelegt haben würde.

‚Ich werde Dich um keinen Preis allein zurücklassen,‘ rief er; ‚die Sorge um Dich würde mich tödten. Ich fliehe nicht ohne Dich.‘

Wir überlegten nun eine Weile, wohin wir uns um ein schützendes Obdach wenden sollten, und mein Mann beschloß endlich, zu einem Freunde zu gehen, mit dem er zusammen aufgewachsen und dem er mit großer Selbstaufopferung zu wiederholten Malen die wichtigsten Dienste geleistet hatte. Derselbe wohnte dicht an der Komischen Oper, also eine halbe Stunde von unserm Hause entfernt. Wir erreichten seine Wohnung nach unzähligen Umwegen. Er zeigte sich sehr kalt und verstand sich wohl dazu, meinen Mann, aber nicht mich zu beherbergen. Unter dieser Bedingung wollte jedoch der Letztere die Gastfreundschaft nicht annehmen. Ich fürchtete die Gefahr für meinen Gatten und sagte ihm: ‚Theuerster Tony, ich bitte, ich beschwöre Dich, bleibe Du allein hier zurück. Ich habe zu Hause nichts zu fürchten. Du kennst mich und bist fest überzeugt, daß keine Gewalt auf Erden mich zwingen wird, Deine Zufluchtsstätte zu verrathen.‘

Ich strengte mich an, heiter zu erscheinen, und verließ ihn mit der Versicherung, so bald wie möglich Nachricht von mir zu geben.

Nachdem ich behutsam aus dem Hause geschlüpft, eilte ich wieder nach meiner Wohnung. Es war inzwischen Abend geworden, und müde und abgehetzt, wie ich war, begab ich mich zu Bette. Alles war still und ruhig. Gegen ein Uhr Morgens aber weckte mich ein dumpfes Geräusch vor der Hausthür, und bald ließ sich Waffengeklirr auf der Treppe hören. Nach einer Minute klopfte man an meine Thür.

‚Wer ist da?‘ fragte ich.

‚Im Namen des Gesetzes, öffnen Sie!‘ lautete die Antwort.

Ich weigerte mich, indem ich rief, daß ich zu Bette sei. Sie drohten, die Thür einzuschlagen, wenn ich sie nicht sogleich eintreten ließe.

Ich ließ nun durch mein Dienstmädchen die Salonthür öffnen, während ich mich schnell ankleidete.

Einen Augenblick darauf sah ich mehrere Soldaten, einen Officier und einen rohen Menschen vor mir, der das Häscheramt verrichtete.

‚Wo ist M***?‘ fragte mich dieser, indem er mich heftig am Arme faßte.

‚Ich weiß nicht, wo mein Gatte ist,‘ antwortete ich, mich seinen Händen entwindend.

‚M*** ist nicht Ihr Gatte!‘ rief er barsch. ‚Ihr Verhältniß zu ihm ist nicht legitim. Sie leben mit ihm in wilder Ehe.‘

‚Dies verhindert mich nicht, ihm so treu und ergeben zu sein wie ein legitimes Eheweib,‘ antwortete ich.

‚Wir wissen, was wir davon zu halten haben,‘ kreischte er mich an. ‚Ich fordere Sie nochmals auf, uns den Aufenthalt M***’s anzuzeigen.‘

Ohne ihn eines Blicks zu würdigen, wendete ich mich an den Officier mit den Worten: ‚Ich wiederhole, daß ich nicht weiß, wo mein Gatte sich befindet; aber selbst wenn ich es wüßte, würde ich es nicht sagen, und kostete es mir auch mein Leben. Was würden Sie von einem Weibe halten, das ihren Gatten verriethe? – Wo indessen auch mein Mann sein mag, ich bin überzeugt, daß er sich den Händen der Justiz nicht entziehen will. Er wird sich derselben zur Verfügung stellen, sobald die Wuth dieses entsetzlichen Bürgerkrieges einem ruhigen, besonnenen Ermessen gewichen sein wird.‘

‚Genug der Phrasen!‘ rief der Sbirre. ‚Machen Sie sich fertig! Wir werden bald sehen, wie stark Ihre Todesverachtung ist. Wir sind hier nicht weit von dem Münzgebäude, an dessen Mauern schon mancher der Communards unter den Kugeln gefallen.‘

‚Mein Herr,‘ sagte ich, wiederum zum Officier gewendet, ‚ich fürchte den Tod nicht. Gönnen Sie mir Zeit bis zur Morgenstunde, damit ich noch einige Familienangelegenheiten ordnen und mich ankleiden kann. Vor Tagesanbruch aber verlasse ich das Haus nicht, es sei denn, daß Sie mich mit Gewalt fortschleppen.‘

Der Officier bewilligte meine Bitte mit der Bemerkung, daß er sich auf mein Wort verlasse. ‚Vergessen Sie übrigens nicht,‘ fügte er hinzu. ‚daß Sie bewacht sind und daß Niemand die Rue de Seine unbeobachtet verlassen kann. Punkt sechs Uhr sind wir wieder hier.‘

Kaum war ich allein, als es mir im Kopfe zu wirbeln anfing. Ich fiel in Ohnmacht, und erst nach einer Stunde kam ich wieder zur Besinnung. Ich hatte nun die arme Mariette, mein Dienstmädchen, das weinend, jammernd und händeringend aus einem Zimmer in’s andere lief, zu trösten und zu beruhigen. Es war keine Zeit zu verlieren. Ich kleidete mich sorgfältig an und harrte der verhängnißvollen Stunde entgegen.

Punkt sechs Uhr trafen sie wieder ein.

‚Ich bin bereit,‘ rief ich, ‚führen Sie mich ab!‘

‚Wir werden Ihnen schon sagen, wann es Zeit ist,‘ brummte der Häscher und begann nun mit seinen Gehülfen alle Schränke und Schubladen zu durchsuchen und in den Papieren herum zu stöbern, von denen er sich eines großen Theiles bemächtigte.

Als die Untersuchung zu Ende war, sagte der Officier: ‚Sie bleiben in Ihrer Wohnung und geben Ihr Ehrenwort, dieselbe nicht zu verlassen. Bedenken Sie, daß kein Fluchtversuch möglich ist und daß Sie sich durch einen solchen einem sichern Verderben preisgeben.‘

‚Ich bin mir keiner Schuld bewußt,‘ antwortete ich; ‚wäre dies der Fall, so hätte ich gewiß schon vor einigen Tagen die Flucht ergriffen.‘

Der Sbirre wendete sich abermals an mich mit der Aufforderung, den Aufenthalt meines Gatten anzuzeigen.

Ich kehrte ihm den Rücken.

Nach einigen Minuten fand ich mich wieder allein, ohne jedoch zur Ruhe zu kommen. Die Ungewißheit, in der ich über das Schicksal meines Gatten schwebte, die unbezwingliche Sehnsucht nach ihm und die Furcht, sein Aufenthalt könnte verrathen werden, folterten mein Herz. Ich war in fortwährender fieberischer Aufregung. Der Zustand Mariette’s diente dazu, meine entsetzlichen Qualen noch zu vermehren. Der armen Dirne, die mir so treu, so ergeben war, hatte die nächtliche Haussuchung, das Waffengeklirr und das angedrohte Todesurtheil einen solchen Schrecken eingejagt, daß sie nicht zur Besinnung kam. Sie schrie beständig, daß man sie an meiner Seite erschießen wolle, rannte wehklagend durch’s Haus und selbst in die Nachbarschaft, und erst nach unsäglicher Mühe gelang es mir, sie zu Bett zu bringen.

So kam der Abend heran. Bis zum Tod erschöpft lag ich im Lehnstuhl, halb schlafend, halb wachend, als ich plötzlich lebhafte Schritte auf dem Flur höre. Ich erhob mich erschreckt und wollte die Thür verriegeln, als dieselbe heftig geöffnet wird und mein Gatte mich in die Arme schließt.

‚Unglückseliger!‘ rief ich. ‚Warum kehrst Du aus dem sichern Schlupfwinkel in dieses Hans zurück, das von Spähern und Häschern umgeben ist? Warum bist Du nicht bei Deinem Freunde geblieben?‘

‚Mein Freund hat mir die Gastfreundschaft aufgekündigt,‘ antwortete er mit einem Seufzer.

‚Der Niederträchtige!‘ rief ich auf’s Tiefste empört. ‚Unzählige Male hast Du ihn mit Wohlthaten überhäuft, und zum Danke dafür liefert er Dich dem Tode in die Hände. Schändlich! Schändlich!‘

‚Beruhige Dich, mein Kind,‘ bat er. ‚Die Menschen sind einmal so. Uebrigens,‘ fügte er nach einer Pause hinzu. ‚hätte ich ohnedies sein Haus verlassen. Die Besorgniß um Dich ließ mir weder Ruhe noch Rast. Ich habe diesen Zustand nicht länger ertragen können.‘

Ich erzählte ihm nun, was inzwischen vorgefallen. Er hielt meine Hände in den seinigen und hörte zu, ohne mich auch nur durch eine einzige Silbe zu unterbrechen. Als ich aber geendigt, preßte er mich an seine Brust und rief: ‚Mein theures, theures

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_046.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)