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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

In der Gletscherspalte.


Am 23. September vorigen Jahres, Nachmittags halb vier Uhr, fuhr ich von Innsbruck mit der Brennerbahn nach Patsch, der ersten bergaufwärts gelegenen Station, von wo man ins Stubaythal kommt. Mein Plan war, über das Hochjoch nach Meran zu gehen und so zugleich den Oetzthalern einen Besuch abzustatten; um aber zu ihnen zu gelangen, wählte ich einen Weg, der auf der Landkarte sehr kurz aussieht und für den Freund des Gebirges vor der ermüdenden Thalwanderung den Vorzug besitzt, daß er ihn ebenfalls über den Scheitel eines großen Gebirgstockes hinüberführt, über die Stubayer Alpen. Der Paß heißt „das Bildstöckel“, seine Endpunkte sind im Stubay Ranalt, im Oetzthale Sölden.

Während ich von dem einsam an der Felswand gelegenen Stationshause hinunterstieg zur brausenden Sill, holte ich einen Herrn ein, der denselben Weg verfolgte, und wir gingen eine Strecke zusammen. Er war Professor in Innsbruck und wußte in der Gegend Bescheid.

„Wenn Sie über das Bildstöckel gehen wollen,“ sagte er, „so rathe ich Ihnen, den Anderl Pfurtscheller aus Ranalt zum Führer zu nehmen. Er ist zwar noch jung, aber tüchtig und gewandt. Ranalt können Sie, als guter Fußgänger, heute noch erreichen.“

Ich folgte dem wohlgemeinten Rathe und ahnte dabei freilich nicht, welche mühselige und beschwerliche Wanderung mir auf den unbekannten Wegen durch Nacht und Finsterniß noch bevorstehe. Zwar durch das weite dorfübersäete Stubaythal war es noch angenehm zu wandern; dann aber brach das Dunkel herein und es galt, mit unsäglicher Anstrengung fast für jeden Schritt den Pfad über Berg und Thal, durch Wälder und Wiesen, über Felsen und Steingeröll, ja selbst durch Wasser und Wellen hindurch zu suchen. Und dazu, nachdem ich einmal Neustift passirt hatte, keine menschliche Seele, die mir einen Fingerzeig in dieser Wildniß hätte geben können. Aber der Himmel meinte es gut mit mir. Spät in der Nacht, wenn auch ermüdet und halb verhungert, kam ich nach Ranalt und zu dem so heiß ersehnten Wirthshaus.

Nach einigem Suchen hatte ich das Glück, den richtigen Eingang zu finden und durch Klopfen und Rufen den Vater Pfurtscheller zu erwecken. Er ließ mich über die niedrige Gallerie ins Haus treten und räumte alsdann den Schauplatz dem Dienstmädchen. Bald saß ich unten im Gastzimmer bei einem Schoppen Wein, vor mir lag Amthor’s Alpenfreund, den ich mit andern Schätzen auf dem Bücherbrett gefunden hatte. Daneben sah ich mit Vergnügen dem Mädchen zu, welches hin und wieder ging und mir den Tisch deckte; und im Stillen stellte ich mir die Frage, wie solch eine liebliche Erscheinung in diese Wildniß käme. Sie trug das volle schwarze Haar in Flechten um den Kopf gewunden und hatte große, sanfte Augen wie die Madonnen Murillo’s. Und ihr Name war: Philomene. Als sie die Reste der Mahlzeit fortgeräumt hatte, fragte ich nach Anderl.

„Der schläft schon,“ antwortete sie, „aber ich will ihn gleich rufen. Er liegt oben im Heu.“

Bald stand der Gesuchte vor mir, und als ich ihn sah, da sagte ich mir, daß mein Rathgeber mir gut gerathen hätte: es war ein junger Athlet, kräftig und gewandt in seiner Haltung, voll Entschlossenheit im Ausdruck, wie von der Natur zu kühnen und großen Thaten erschaffen. In der Hauptsache waren wir schon einig, nämlich, daß er mich über das Bildstöckel nach Sölden führen sollte; aber Vormittag, meinte er, könne er mich noch nicht begleiten, da habe er einen Gang in die Nähe zu thun. „Bleiben Sie morgen bei uns,“ sagte er, „es wird Sie nicht gereuen. Sie steigen auf die Pfandleralpe, da giebt es eine schöne Aussicht. Nach Mittag bin ich zurück, dann gehen wir noch zwei Stunden bis zur Mutternberger Alp und bleiben dort die Nacht. So kommen wir am Morgen früh mit frischen Kräften an den Gletscher.“

Sein Vorschlag ward angenommen; das Nest, in dem ich saß, war behaglich; auch dem Wetter konnte, damit es sich vollends klärte, eine Tagesfrist nicht schaden. – Philomene zeigte mir mein Zimmer, es war ganz von rohem Holz, aber sauber und nett, und als die Uhr elf schlug, lag das ganze Haus wieder in tiefem Schlaf und ich selbst auch. Am folgenden Morgen durfte ich ausschlafen und that es. Dann trank ich in Ruhe meinen Kaffee, bestellte bei Philomene ein solennes Mittagsmahl, um mich für die zu erwartenden Strapazen zu stärken, und stieg auf die Pfandleralp, die denn auch wirklich hielt, was Anderl von ihr versprochen hatte. Philomene’s Mittagsessen nachher däuchte mir mit seiner Suppe, den Backhändlen und dem Kaiserschmarren königlich, und so konnte ich denn freudigen Muthes zuschauen, als gegen Abend Anderl erschien und den Fouragesack zurecht machte; zwei Flaschen Wein kamen hinein, ein Fläschchen Kirschwasser, Brod, Speck, das Seil, außerdem mein Tornister mit Allem, was er enthielt; und nun sagten wir Lebewohl und gingen in den Abend hinein immer durch den Lärchenwald fort. Nach einer Weile rückten die Berge von beiden Seiten nahe zusammen und bildeten eine Enge, durch die wir den Fluß entlang aufwärts gingen. Auf den Höhen lagen dunkle Nebel, in denen der Sturm wühlte. Eine Minute lang ward in der tiefen Dämmerung ein weißes Firnfeld im Gebiet des Lisenzer Ferners sichtbar, dann senkte sich eine Wolke darüber. Nun wurde es finstere Nacht, wir schritten tüchtig zu und mußten auf den Weg achten, der voller spitzen Steine war.

Eine kleine Stunde später erreichten wir die Alp, einen Complex von Hütten, Ställen und Heuschobern, und traten bei den Sennen ein. Man muß selbst einmal bei dem gastlichen Völkchen Einkehr gefunden haben, um zu wissen, wie gemüthlich sich’s nach ermüdender Tageswanderung beim hellen Feuer sitzt. Draußen im Finstern rauscht der Bach und geht der Wind, hin und wieder tönt eine Schelle; hier innen kreist der Tabaksbeutel und der Kienspahn, der die Pfeife in Brand erhält. Man nimmt an der Unterhaltung Theil, soweit die Sprache, in der sie geführt wird, dies gestattet, oder sieht in die Gluth und hängt seinen Gedanken nach.

Das Gespräch drehte sich um die bevorstehende Thalfahrt und um die heurige Gemsjagd. Einer der Sennen war heute am Sonntag bis Vulpmes hinuntergegangen und hat einen ganzen Sack voll Neuigkeiten mitgebracht; so bleiben denn auch die Tagesfragen der hohen Politik in diesem Kreise nicht unerörtert. Dabei werden Geschichten mit herangezogen von großen Gemsjägern und Wilderern, von Schmugglern und kühnen Bergsteigern.

Die Uhr ist halb acht, die Sennen waren zum Milchen gegangen und kehren mit halbgefüllten Kübeln aus dem Stall zurück – bei der kargen Weide wird der Milchertrag zusehends geringer. Der Milcher schickt sich an, das Abendessen zu bereiten. Ueber des Feuers Gluth werden Butter und Mehl unter beständigem Umrühren in eiserner Pfanne gepaart; widerwillig treten die Elemente zusammen. Wenn es recht qualmt und zischt, gießt er frische Milch darüber, die den Aufruhr besänftigt; zum Schluß brockt er dann noch Brod hinein – und das Gericht ist fertig. Nun holt jeder der Sennen seinen Löffel hervor; über der Thür, im Holz, über der Feuerung, am Fenster, hinter dem Wasserfaß – überall giebt es die schönsten Verstecke, wo man ihn aufbewahren kann, und nun findet im Nebenstübchen beim Scheine eines Lämpchens die einfache Mahlzeit statt, vorher eine lange Andacht, hinterher ein kurzes Gebet.

Nachdem die Sennen versorgt sind, kommen die Gäste an die Reihe, eine Holzschüssel voll warmer Milch für Jeden macht gesunden Schlaf und giebt für morgen Kräfte.

Noch einmal schließt sich der Kreis um’s Feuer, und der Kienspahn entzündet wiederum die Pfeifen. Aber das Gespräch will nicht mehr fließen und bald kommt in Betracht, daß man morgen zeitig aufbrechen müsse und vorher verpflichtet sei, auszuschlafen. Einer nimmt ein Licht und geht voran, draußen ist es sehr dunkel und windstill, so daß die Flamme ruhig brennt. Am Stall führt eine schmale Stiege zum Heuboden empor, Einer nach dem Andern steigt hinan. Vorne schlafen die Sennen, die Gäste wühlen sich hinten ihr Lager zurecht; Jeder erhält eine wollene Decke. Das Heu ist alt und geruchlos, entwickelt aber, sowie man daran rührt, einen dicken Staub. Die Decke dient als Unterlage, das Plaid zum Zudecken; auf die Füße kommt noch ein Bund Heu, um den Kopf ein Taschentuch – und das schönste Lager ist fertig. Dann wird das Licht gelöscht und die Nachtruhe beginnt. Unter uns im Stalle stand eine Kuh und einige Ziegen, die Glocke

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 61. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_061.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)