Seite:Die Gartenlaube (1872) 092.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

wohl diese Geschichte behandeln, wie sie den historischen Kern herausschälen würden.

Ich gestehe, daß ich nach dieser dritten Dosis ernstlich neugierig wurde und sehr gern herausgebracht hätte, welche von den drei Erzählungen die Wahrheit enthalte.

An einem Sonntag des letzten Herbstes war ich nun wieder nach Fügen gekommen und wieder in die Post gegangen. Diese hat jetzt nach des Vaters Tod sein älterer Sohn, Herr Max Rainer, ein freundlicher junger Mann, übernommen. Unter seinem Dache lernte ich auch einen anderen Wallfahrer aus demselben Clan, Herrn Andrä Rainer, kennen; dieser war eben aus dem Oriente, zunächst von Constantinopel, zurückgekommen, wo er mit seiner Gesellschaft vor dem Großvezier, dem Mufti, verschiedenen Paschas und Effendis, vor den europäischen Diplomaten und der ganzen stambulischen Elite die Zillerthaler Alpenlieder gesungen und so vielen Beifall und Gewinn davongetragen hat, daß er nach einiger Rast wieder eine Gesellschaft zusammenzustellen und abermals in die Levante zu gehen gedenkt.

Ich hielt es wohl der Mühe werth, über den Gegenstand meiner Neugier einige Fragen zu stellen, kam aber nicht weit damit. Im Großen ist die Geschichte der Rainer allen Zillerthalern wohlbekannt, allein die kleinern Züge scheinen längst vergessen. Die glücklichen Sänger sind, als sie sich noch in jungen Jahren verheiratheten und am heimischen Herde zur Ruhe setzten, des Erzählens, wie es scheint, bald müde geworden, und als ihre Kinder zu ihren Tagen kamen, hatten sie es wohl schon gänzlich aufgegeben, denn auch ihren nachgelassenen Familien ist fast alle Tradition über die Anfänge erloschen.

An jenem Herbstsonntage zeigte sich übrigens ein sehr munteres Leben auf der Post zu Fügen. Die jungen Leute dieses Ortes haben sich nämlich in letzterer Zeit mit besonderem Fleiße auf die kriegerische Blechmusik verlegt und in derselben eine namhafte Kunstfertigkeit erreicht. Nun wollten sie auch einmal die lieben Nachbarn zu Zell, welches tiefer einwärts im Thale liegt, ihre schönsten Stücklein hören lassen und hatten daher auf diesen Tag eine lustige Spielmannsfahrt angesetzt. Ich schloß mich ihnen an und bin so Zeuge davon gewesen, mit welcher Herzlichkeit sich alle die überraschten Zeller über die trefflichen Leistungen der Fügener Burschen freuten. Als sich die Spielleute später zum Krug zusammengesetzt, dachte ich wieder an meine Forschungen und erinnerte mich, daß hier zu Zell im „Goldnen Stern“ eine Tochter Joseph Rainer’s verehelicht sei, welche vor siebenundzwanzig Jahren als sechsjähriges Mädchen mit ihrem Vater und ihren zwei Geschwistern auch schon Almenlieder sang und eines Abends, als ich zu Fügen im Hackelthurme saß, selbviert ihr jugendliches Stimmchen erschallen ließ. Ihr zu Liebe also ging ich in den „Goldnen Stern“, der ohnedem nicht weit vom Bräuwirth zu finden ist, wurde auch freundlich aufgenommen und legte bald meine Absichten auseinander.

Joseph Rainer’s Seppele, jetzt Frau Sternwirthin Aigner zu Zell, dürfte also ungefähr dreiunddreißig Jahre alt sein und hat sich unbestrittener Maßen sehr kräftig und stattlich ausgewachsen. Aber das ehemalige Seppele schien mir auch nichts mittheilen zu können, was meinen Wissensdurst gelöscht hätte. Keine Spur einer Erinnerung an die Anfänge, die ersten Thaten und Fahrten der Ur-Rainer.

„Also auch Sie wissen nichts,“ sagte ich endlich in einiger Betrübniß; „damit geht meine letzte Hoffnung zu Grabe, denn Fügen und Schwaz habe ich schon ausgeschöpft bis auf den Boden und doch nichts Rechtes gefunden.“

„Na halt,“ sagte Frau Seppele, „da fällt mir g’rad’ noch ein, daß mir die Marie Rainer einmal ihr Tagebuch geschenkt hat.“

„Maria Rainer?“ wiederholte ich gespannt, „Ludwig Rainer’s Mutter, die einst mit nach England gezogen ist?“

„Ja, ja, die Marie, die hat Alles aufgeschrieben, wie sie fort und wo sie hingekommen sind und wo sie überall gesungen und was sie dafür gekriegt haben. Ein schönes Lesen!“

„Endlich,“ rief ich, „endlich ist das Ziel erreicht, endlich können wir die Odyssee der Rainer schreiben oder die Lusiade des Zillerthals! Jetzt her mit dem Tagebuch, Frau Sternwirthin! Seien Sie von der Güte und holen Sie’s auf der Stelle!“

„Ja, das Buch,“ erwiderte sie lächelnd, „das hab’ ich schon lang’ verloren.“

Ich war schmerzlich enttäuscht. „Und solche Handschriften kann man auch verlieren?“ rief ich endlich.

„Ja, wenn man lappet (thöricht) ist,“ sagte Frau Aigner begütigend, „warum denn nicht? Seit ich hier in Zell bin, mein’ ich nicht, daß ich das Büchel gesehen hab’; es liegt vielleicht noch im Hackelthurm, in der Rumpelkammer. Ja, da möcht’s vielleicht noch liegen.“

Ich hatte mich wieder gefaßt, nahm freundlichen Abschied und verlor mich wieder unter den Spielleuten. Mit diesen gelangte ich auch am späten Abend in voller Dunkelheit wieder nach Fügen. Maxl fuhr auf dem Leiterwagen nach Hause und ich hatte keine Gelegenheit mehr, ihm mitzutheilen, wie es mir im „Goldnen Stern“ gegangen.

Am andern Morgen aber kamen wir im Herrenstübel zusammen und ich begann: „Nun, ich habe mich, Herr Postmeister, zum Historiographen der Rainer aufwerfen wollen, aber im Zillerthal ist nichts zu finden. Ich glaube, wenn man Eure Geschichte schreiben will, geht man besser nach London als nach Fügen oder Zell.“

„Da könnten S’ Recht haben,“ sagte der Postmeister, „denn wir wissen Alle nichts. Aber halt! London!! da habe ich noch drei englische Liederbücher oben, die sind in London gedruckt – fällt mir jetzt erst ein – da steht vielleicht mancher Brocken drinn, den ein Geschichtschreiber verwenden könnte.“

Der Postmeister ging nun rasch in den obern Stock und kam bald mit drei gleich gebundenen Büchern in klein Folio zurück. Ich schlug erwartungsvoll das Titelblatt auf und fand da zu angenehmer Ueberraschung folgende Worte: The Tyrolese Melodies etc., zu deutsch: „die Tirolerlieder, arrangirt für eine oder vier Stimmen mit Begleitung für das Pianoforte von I. Moscheles und gesungen mit entzücktem Beifall (with the most rapturous applause) in der ägyptischen Halle, London, von der tirolischen Familie.“ Deren Name ist als selbstverständlich nicht beigesetzt. Auf das Titelblatt folgt eine Einleitung, acht Folioseiten lang, überschrieben: The Tyrolese Minstrels – in welcher ich nach flüchtiger Durchsicht eine Geschichte des Lebens, der Reisen und Erfolge meiner Helden zu finden glaubte.

Endlich war also eine Quelle entdeckt, eine wahrscheinlich sehr reine und verlässige Quelle – denn die literarischen Zuflüsse für sie konnten nur die Geschwister Rainer selbst geliefert haben. Der Enthusiasmus, den sie damals in England erregten, hatte ihnen – das war klar – einen britischen Schöngeist zugeführt, der ihnen ihre Memorabilien abfragte und diese säuberlich zu Papier brachte. Es war wirklich ein Fund!

Wir wollen nun etwas näher auf diese Quelle eingehen.

Auf dem Titelblatte des ersten Bandes findet sich auch eine Vignette, welche die vier Brüder Rainer und ihre Schwester Marie – diese in der Mitte – darstellt. Im Hintergrunde ragt das Hochgebirge auf. Die großen, breitschultrigen Sänger – ihre männliche Schönheit wird im Zillerthal noch jetzt gerühmt – sie tragen alle die einfache Tracht ihrer Heimath. Auch Marie präsentirt sich noch ganz unverfeinert in einem Aufzuge, der uns jetzt etwas schlampig vorkommt. Es ist der lange enge Rock, das weit ausgeschnittene Mieder, das dicke schlappe Halstuch, welches die Brust bedeckt – ganz die Tracht, wie sie jetzt noch die Duxerinnen führen und wie sie damals herausging bis an den Saum des Zillerthals. Später schenkte übrigens der König von England den Geschwistern je einen ganzen Anzug, und von da an traten die Brüder in Jacken mit Hermelin verbrämt, die Schwester in einem seidenen weit ausgeschnittenen Ballkleid auf. Man sieht jetzt noch Lithographien, die sie in diesen Prunkgewändern darstellen. Die schön gestickten Gürtel (Ranzen) mit dem großbritannischen Wappen aus Silber darauf, welche der König damals den Brüdern verehrte, haben sich als theure Angedenken noch in deren Familien erhalten.

Auf dem Titelblatte findet sich ferner eine an Ihre durchlauchtige Hoheit, die Fürstin Esterhazy, gerichtete Widmung und unter dieser eine mit den facsimilirten Unterschriften der fünf Geschwister versehene Erklärung, laut deren nur H. Ignaz Moscheles berechtigt sein soll, die Musik und das Arrangement der Lieder, nur Herr William Ball, deren Uebersetzung zu besorgen und herauszugeben. Diese Erklärung ist datirt: 35 Foley street, London, June 23rd 1827.

Folgt also die Einleitung, welche von Herrn William Ball

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_092.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)