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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

zu schauen, sondern fest und unverwandt auf den Steg vor sich zu blicken, wollte man ungefährdet hinüber.

Furchtlos betrat Benedict die Brücke, er ging den Weg ja seit Monden beinahe Tag für Tag; ohne das Geländer zu berühren, ohne auch nur die allergewöhnlichste Vorsicht zu brauchen, schritt er rasch vorwärts. Vielleicht gab sein schwindelfreies Auge ihm diesen Muth, vielleicht auch die Gleichgültigkeit gegen das Leben, die er vor Kurzem noch dem alten Pfarrer gegenüber ausgesprochen; und es war wohl Schlimmeres als bloße Gleichgültigkeit dagegen, was, in der Mitte der Brücke angelangt, seinen Schritt bannte und ihn so unverwandt niederschauen ließ in den kochenden Gischt da unten. Leise kam die Versuchung herangeschlichen, es war nicht das erste Mal, daß sie ihm an dieser Stelle nahte, er hatte sie bisher noch immer überwunden, aber heute, nach jenem Gespräch mit dem Grafen, das ihm deutlich verrieth, was er bisher doch nur dunkel geahnt, welches Schicksal seiner wartete, heute setzte er ihr nicht den alten Widerstand entgegen. Wie festgebannt hing sein Auge an dem finstern Schlunde, an dem Gewässer, das sich zischend und schillernd wie eine Schlange dahinwand, und leise wie mit Schlangenlauten tönte dies dumpfe Zischen zu ihm herauf, es gewann eine Sprache, die immer deutlicher, immer vernehmlicher an sein Ohr schlug, war sie doch nur das Echo seiner eigenen wühlenden Gedanken.

„Wozu dich in die Hand der Menschen geben, wenn die eigene das Geschick vollenden kann, dem du nun einmal unwiderruflich verfallen bist? Ein Sturz, ein letzter Aufschrei vielleicht – und die kalten Wellen schäumen hinweg auch über die heiße Stirn, die das Denken nun einmal nicht verlernen will, über das wilde glühende Herz, das nicht kühl und still schlagen kann unter dem heiligen Gewande. Und es ist doch Alles, Alles umsonst durch das eine unselige Wort, mit dem du dich der Kirche gelobtest, das dich bindet für Zeit und Ewigkeit! Es reißt dich los von dem Leben, das mit all’ seinen reichen Schätzen, mit all’ seinem sonnigen Glanze wie ein fernes erträumtes Wunderland einst vor dir auftauchte, um auf immer wieder zu versinken, es zieht dich wieder zurück in die alte Knechtschaft, in die dumpfen Hallen des Klosters. Gehorsam heißt ja das erste, das oberste Gelübde des Ordens, und der Mönch muß ihm folgen, wüßte er auch, daß der Weg, den man ihn gehen heißt, am Abgrunde endigt! Wozu den endlosen nutzlosen Kampf erneuern, dem doch nie der Sieg beschieden ist? Ein entschlossener Schritt, und die Kette ist gesprengt, die Last sinkt von deinen Schultern für ewig! Hinab!“

Benedict starrte noch immer unbeweglich hinunter in die Tiefe, aber schwer und schwerer stützte er sich auf das Geländer, das schon wankte und zitterte unter seiner Hand, es legte sich feucht und eiskalt auf seine Schläfe, tief und tiefer senkte er das Haupt – noch eine Secunde, und die weißen Wellenarme drunten, die sich so gierig nach ihm ausstreckten empfingen ihr Opfer.

Da auf einmal klang ein fremder Ton herüber, ferne, leise, halb verweht, aber er drang dennoch zu seinem Ohr, unwillkürlich hob er das Haupt und lauschte. Jetzt trug der Wind die Töne voller, mächtiger herüber, drüben in der Wallfahrtskirche hallten die Glocken und riefen zur Vesper,[WS 1] die Kirche rief ihren Priester. Dort harrten die Andächtigen seines Erscheinens, und die geweihte Hand, die ihnen den Segen spenden sollte, hob sich in diesem Augenblick zum Selbstmorde!

Langsam zog Benedict den Arm zurück von dem Geländer, das in der nächsten Minute gebrochen wäre unter der Wucht seines Körpers, langsam richtete er sich empor und wandte das Auge weg von der verlockenden Tiefe. Die eherne Stimme der Pflicht suchte und fand ihn auf dem gefährlichsten Wege; diese längst ihres Zaubers entkleidete, so tief gehaßte und doch beschworene Pflicht, sie ward jetzt seine Retterin. Vergebens streckten die Wellen ihre Arme auf’s Neue nach ihm aus, vergebens lockten und winkten sie ihn zu sich nieder, der helle Glockenklang übertönte die dunklen Stimmen aus der Tiefe, mit einem schweren tiefen Aufathmen rang sich der junge Priester los von der Versuchung und schritt entschlossen weiter, die verhängnißvolle Brücke blieb hinter ihm, hinter ihm verhallte das unheimliche Brausen und Zischen, nur die Glockentöne zogen weithin durch die Luft, weithin über das Gebirge, und hochaufgerichtet festen Schrittes ging er den Weg, den sie ihm zeigten – zum Altar.




„Nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Pfarrer, aber das ist ja ein ganz schändliches Wehen hier oben auf Ihren Bergen! Man möchte zehn Hände haben, um Hut und Shawl und Schirm, und noch zehn andere Dinge fest zu halten, sonst tanzen sie in der nächsten Minute um die Schneegipfel droben. Und seine eigene Person auf den Füßen zu erhalten hat man auch Mühe genug, sonst nimmt sie der Wind und setzt sie ohne Weiteres in eine von den verhexten Schluchten nieder, wohin nicht Sonne noch Mond scheint, und wo man sich, wie Ihre frommen Kalenderheiligen, von Eidechsen und Tannenzapfen ernähren muß, bis einen endlich irgend ein mitleidiger Bauer findet und wieder zur Menschheit zurückbringt. Die abscheulichen Wege hier haben uns schon unseren Wagen gekostet, die Räder waren vernünftiger als wir, sie wollten nicht weiter und zogen es vor, entzwei zu brechen, wir selbst sind halbtodt von dem Heraufklettern auf diesem Dinge, das sich ein Fahrweg nennt, und dabei Löcher und Untiefen hat, groß genug, um eine vierspännige Extrapost mit Mann und Maus zu verschlingen. Geh mir einer mit der Schönheit der Gebirge! Ich bleibe dabei, sie sind vom lieben Herrgott eigens erschaffen, um seinen Creaturen das Leben schwer zu machen, was nun einmal hier auf Erden nothwendig zu sein scheint.“

Pfarrer Clemens, der, im Begriff wieder in sein Haus zu treten, sich plötzlich vom Rücken her in dieser Weise anreden hörte, wendete sich hastig um und blickte erschrocken die Dame an, welche ihm im Tone einer nachdrücklichen Strafpredigt diese Rede hielt. Ihr Gesichtsausdruck war dabei so zornig, ihre Bewegungen so energisch, als sei der arme Geistliche allein verantwortlich für alle die eben geschilderten Unannehmlichkeiten, und dieser fühlte sich wirklich in der ersten Ueberraschung und Bestürzung als der schuldige Theil.

„Ich bedauere sehr –“ sagte er verlegen und ängstlich, „es thut mir leid, aber ich – ich kann wirklich nicht dafür, daß das Klima auf unseren Bergen so rauh ist.“

Die Dame lachte laut auf bei dieser Entschuldigung und trat ihm vertraulich einen Schritt näher.

„Nein, Hochwürden, dafür können Sie in der That nicht!“ sagte sie gutmüthig. „Ich meinte auch nicht Sie, Gott behüte! Nichts für ungut, daß ich Sie so anfuhr. Wir kommen als zwei hülflose Frauen zu Ihnen und bitten um Schutz und Obdach für einige Stunden. Sie brauchen sich nicht zu ängstigen.“

Trotz dieser Versicherung retirirte der Pfarrer doch etwas näher nach der Thür hin, während er schüchtern zu der Erscheinung emporblickte, die allerdings dem Bilde, das man sich von einer „hülflosen Frau“ zu machen pflegt, so wenig entsprach, als der Ton, mit dem sie sich eingeführt, der Bitte.

Es war eine große, kräftige Gestalt, sie trug einen eleganten dicken Reiseshawl, der in allerdings mehr stürmischer als malerischer Drapirung um die Schultern geworfen war. Mit der Linken hielt sie ihren Hut, der, seiner schiefen Stellung und den bedenklichen Wellenlinien seines Schirmes nach zu urtheilen, schon mehrmals den Versuch gemacht hatte, dem Orte, an den er von Rechtswegen gehörte, zu entfliehen, an beiden Bändern auf dem Kopfe fest, mit der Rechten stützte sie sich auf einen großen Regenschirm, der auch schon vom Sturme arg mitgenommen war, und überdies die Spuren des lehmigen Felsbodens zeigte, auf dem er als Alpenstock gedient hatte. Hinter ihr ward jetzt eine kleinere, zartere Figur sichtbar, ganz in einen grauen Regenmantel gehüllt, der die feine Gestalt vom Halse an bis herab zu den Füßen umschloß. Sie hatte es vorgezogen, ihren Hut ganz abzunehmen, statt ihn fortwährend festhalten zu müssen, und während sie ihn in der Hand trug, flatterten die Locken, dem Winde preisgegeben, nach allen Richtungen. Das „schändliche Wehen“, das ihre Gefährtin so aufbrachte, schien ihr weit weniger Kummer zu verursachen, das frische, von der scharfen Bergluft angehauchte Gesichtchen drückte eher Vergnügen aus über die ganze abenteuerliche Fahrt, und es zuckte wie mühsam unterdrücktes Lachen um den kleinen Mund bei den komischen Vorwürfen, mit denen ihre Begleiterin auf den armen Pfarrer einstürmte, und bei der sichtbaren Angst des hochwürdigen Herrn vor der resoluten Dame.

Er lud sie nichtsdestoweniger ein, in’s Haus zu treten, und

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Entsprechend Berichtigung in Heft 11 das Wort „Messe“ durch „Vesper“ ersetzt
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_151.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)