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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

ihrer ganzen Haltung, die Brust hob und senkte sich schwer von der ungewohnten Anstrengung, das Gesicht unter den braunen Locken war erschreckend bleich – sie hatte augenscheinlich ihre Kräfte auf’s Aeußerste angespannt, bis sie ihr versagten.

Der gutmüthige Führer geleitete sie rasch zu dem moosbedeckten Felsstück und ließ sie niedersitzen, aber er schüttelte bedenklich den Kopf.

„Das wird nimmermehr gut, Fräulein, Sie kommen nicht weiter! Wir wollen lieber umkehren, Sie halten’s nicht aus!“

Sie machte eine heftig verneinende Bewegung. „Nein, nein, es geht vorüber! Ich bin nur müde, lasten Sie mich einige Minuten ausruhen! Haben wir noch weit bis N.?“

„Zwei volle Stunden bis zur Wallfahrtskirche, und dann noch ein gutes Stück bis zum Dorfe hinauf, denn die ‚wilde Klamm‘ ist jetzt nicht zu passiren. Das Schlimmste vom ganzen Wege haben wir noch vor uns!“

Das junge Mädchen schauerte leise zusammen, ob vor dem Wege oder vor dem Orte, den er nannte, sie gab keine Antwort. Der Bauer begriff trotzdem, daß von Umkehr nicht die Rede sei, er blieb also an ihrer Seite stehen und wartete geduldig auf den Wiederaufbruch.

„Hab’ ich doch gemeint, wir Zwei seien die Einzigen unterwegs!“ begann er plötzlich wieder, „und da kommt Hochwürden der Herr Caplan grade vom Ecken-Hof herunter! Der scheut auch nicht Weg, nicht Wetter, er ist wahrhaftig heute von N. gekommen, weil im Ecken-Hof ein Krankes liegt!“

Es war in der That der junge Caplan des Pfarrer Clemens, der aus dem Gehöfte hervorkam und gleichfalls die Höhe erstieg, er blickte flüchtig auf den Bauer, der ehrfurchtsvoll grüßend am Wege stand, und mit seiner breiten Gestalt völlig die des jungen Mädchens verdeckte.

„Bist Du auch unterwegs, Ambros?“ fragte er im Vorübergehen.

„Ja, Hochwürden, aber nicht allein! Ich verdiene mir ein Führerlohn bei der Dame da –“ er wich bei den letzten Worten seitwärts und gab den Anblick seiner Begleiterin frei, kam aber nicht weiter in seinen Auseinandersetzungen, denn was er sah, dünkte ihm doch etwas befremdlich.

Der Caplan stand da – als habe einer der Berggeister, von denen die Sagen des Gebirges erzählen, ihn auf einmal berührt und in Stein verwandelt, nur das Auge flammte auf, groß und dunkel, und nur der Blick allein redete, aber er sagte genug. Sie war wohl mehr dämonisch als zärtlich, diese Gluth, die so plötzlich wieder aus der Tiefe hervorbrach, aber sie schien auch das einzige Leben zu sein in diesen starren Zügen.

Auch das junge Mädchen war aufgezuckt bei seinem Erscheinen und einen Augenblick schien es, als wolle der heiße Purpur wieder ihr Antlitz überfluthen, doch es kam nicht dazu, kaum daß ein schwacher Hauch von Röthe es überflog, und auch der schwand schon in der nächsten Minute, um der früheren tiefen Blässe wieder Platz zu machen. Ihre Kräfte hätten doch wohl nicht ausgereicht zu dem ganzen Wege, aber wenn diese unerwartete Begegnung, die sie ja allein nur suchte, ihr auch erwünscht kam – leichter war ihr dabei nicht geworden.

„Das Fräulein will nach N. zum Pfarrer Clemens,“ nahm der Bauer endlich das Wort, als er sah, daß Niemand von den Beiden redete.

„Das ist jetzt nicht mehr nöthig!“ unterbrach ihn seine Begleiterin leise, aber mit sichtbarer Anstrengung. „Ich kann auch – ich werde es auch dem Pater Benedict mittheilen können, was mich herführte. Erwarten Sie mich dort unten im Gehöft, in einer Viertelstunde bin ich wieder bei Ihnen.“

Der Bauer nickte und nach nochmaligem ehrfurchtsvollem Gruße gegen den Caplan trollte er ab. Er war sehr froh, sein Führerlohn so leichten Kaufes verdient zu haben, ohne den beschwerlichen Weg machen zu müssen, und fand es gar nicht auffallend, daß auch die junge Dame diesen scheute und es deshalb vorzog, sich dem Caplan anzuvertrauen, der ihre Botschaft oder ihr Anliegen ja jedenfalls dem Pfarrer überbrachte. Er sprach einstweilen in dem Gehöfte ein und wartete dort verabredetermaßen.

Benedict und Lucie waren allein zurückgeblieben. Sie befanden sich hier in halber Höhe des Gebirges, das einen seiner großartigsten Punkte vor ihnen aufrollte. Dort drüben thürmten sich in schwindelnder Höhe die riesigen Gipfel der „steilen Wand“ empor; sie war völlig klar heute, weißleuchtend lag der Schnee auf den Spitzen, in den Schluchten und Scharten des gigantischen Felskolosses, aber noch jagte graues Sturmgewölk darüber hin und warf ein trübes, mattes Licht auf ihn und auf die ganze Umgebung. Ringsum nur Tannenwipfel, so weit das Auge reichte, an den Bergen, an den Felswänden, bis dort hinauf, wo der Schnee begann, überall nur das einförmige ewig dunkle Grün und tief unten im Thale der Bergstrom, der wie ein kochender Strahl aus den Tannen hervorbrach, zwischen ihnen verschwand und sich dann weiß schäumend auf’s Neue hervorwand, sein dumpfes Brausen drang fern und undeutlich herauf, der einzige Laut in der großartigen schweigenden Einsamkeit.

„Sie wollten zu Pfarrer Clemens, mein Fräulein?“ begann Benedict endlich die Unterredung.

Lucie schüttelte das Haupt. „Nicht zu ihm,“ entgegnete sie leise; „ich hoffte, Sie am sichersten dort zu finden. – Ich suchte Sie allein!“

„Mich!“ Es war ein stürmisches Aufwogen in seiner Stimme, aber es sank sofort wieder bei dem Blick auf ihr Gesicht. Was war aus diesem Kinderantlitz geworden, seit er es zum letzten Male gesehen! „Mich!“ wiederholte er langsam, „und was konnte Sie zu mir führen?“

Lucie schwieg. Jetzt, wo sie vor der Entscheidung stand, drohte der Muth zusammenzubrechen, der sie bisher aufrecht erhalten, sie hatte den Bruder retten wollen und fühlte doch jetzt, daß sie zu viel unternommen, daß sie eher seine Gefangenschaft, seine Gefahr ertragen hätte, Alles – nur nicht seine Rettung um diesen Preis!

Benedict sah den Kampf in ihren Zügen. „Kostet es Ihnen so schwere Ueberwindung, auch nur das Wort an mich zu richten?“ fragte er bitter. „Ich begreife es, nach dem, was geschehen ist, aber Sie werden sich doch wohl entschließen müssen, noch einmal zu dem Verhaßten zu sprechen, wenn ich anders Ihren Wunsch erfahren soll!“

Er zog den Mantel fester um die Schultern. Luciens Blick heftete sich wie in angstvollem Forschen auf diesen Mantel von dunklem einfachen Tuche, als suche oder – fürchte sie dort etwas, aber der Saum verschwand völlig in den Falten, er ließ sich nicht verfolgen.

„Ich habe eine Frage an Sie,“ sagte sie endlich fast unhörbar, „und eine Bitte!“

„Nun wohl, ich warte.“

Es lag eine seltsame Härte in dem Ton, es war überhaupt etwas Hartes, Starres in seinem ganzen Wesen; Lucie wußte wohl, daß es schwinden würde, wenn sie das Auge zu ihm emporhob, aber sie wußte auch, daß es um ihre Fassung geschehen war, wenn er sich jetzt nicht herb und hart zeigte, ihr Blick blieb an den Boden geheftet.

„Es betrifft den Tod des Grafen Rhaneck –“

Sie schwieg plötzlich, es schien ihr, als sei er aufgezuckt bei dem Namen, aber eine Antwort erfolgte nicht.

„Man sagt, er sei –“ sie hielt wieder inne, das entsetzliche Wort konnte nicht über ihre Lippen, „es sei kein bloßes Unglück gewesen, dem er zum Opfer gefallen.“

Wieder dies entsetzliche Schweigen. Benedict blieb stumm, Lucie wagte es noch immer nicht, ihn anzublicken, aber sie raffte den letzten Rest ihrer Kraft zusammen.

„Die Gerichte haben sich bereits der Sache bemächtigt. Man beschuldigt meinen Bruder – er ist gestern verhaftet worden.“

Jetzt zum ersten Male zuckte er wirklich auf, sie sah, wie seine Hand sich krampfhaft ballte.

„Günther? Ah!“

Es war ein Ausruf halb der Wuth und halb des Entsetzens, aber es blitzte dabei etwas wie ein Hoffnungsstrahl auf in der Seele des jungen Mädchens.

„Sie wußten es nicht?“

„Wir sind seit drei Tagen abgeschnitten von der Ebene, selbst die gewöhnlichen Boten kommen nicht mehr zu uns herauf. Ich ahnte nicht, daß man überhaupt Verdacht hegte, sonst –“

„Sonst wären Sie gekommen und hätten Bernhard gerettet – ich wußte es!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_204.jpg&oldid=- (Version vom 17.1.2018)