Seite:Die Gartenlaube (1872) 285.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 18.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Beim Alten am Sulzberg.


1.


„Vater, da schau’ auf! Ist das ein Nebelgeier, der da droben kreist, oder gar ein Adler? Er ist aber ganz kleinwinzig.“

Der von seinem Buben also Angeredete ließ seine Arbeit, einen Lederriemen, den er an einem alten Steigeisen befestigte, einen Augenblick ruhen, erhob das Gesicht zum rosig gefärbten Morgenhimmel und schaute aufmerksam nach dem bezeichneten schwarzen Punkte, der hoch über den Bergen im blauen Aether ruhig seine Kreise zog.

„Mei’, Glaasei (Nicolaus),“ war die Antwort, „das ist ein Steinadler und noch dazu ein sakrisch’ großes Thier. Den kannst alle Fruh sehen, der hat sein’ Horst drüben am G’wänd vom Riesenkopf.“

Dann setzte der Alte die unterbrochene Arbeit wieder fort und paßte mit kundiger Hand das Steigeisen an einen schwer benagelten Bergschuh. Große Eile mußte sein Geschäft nicht haben, denn häufig spähte er nach einer bestimmten Richtung hinab in’s Thal, über dem noch die Schatten der Morgendämmerung lagerten, dann wieder lauschte er mit vorgeneigtem Kopfe über den Berggrat hinaus. Dabei zwickte er das eine seiner schlauen Augen zu und ein schalkhaftes Lächeln glitt über das kluge wetterbraune Gesicht. Als er sich jetzt von dem Felsblock erhob, auf dem er gesessen, zeigte er sich trotz der auffälligen Dürftigkeit seines Anzugs als eine imponirende Erscheinung.

Das mit Silberfäden reich durchzogene Haar und der schon völlig weiße Schnurrbart ließen auf ein ziemlich hohes Alter schließen, die aufrechte sehnige Gestalt aber, das helle Lächeln und der joviale Zug um den feingeschnittenen Mund, der beim Lachen noch die weißesten Zähne zeigte, hätten Niemand errathen lassen, daß der Heu-Anderl (Andreas), der mit seinem Buben einsam hier auf dem obern Sulzberg hauste, schon hoch in den Sechzigen stand.

Wie Alles, was lebt und athmet in der frischen grünen Alpenwelt, war auch der Anderl durch und durch frisch und gesund, und wie fest und straff er noch den Körper trug, so sicher und leicht war auch sein Gang. Sein ganzes Costüm – freilich schien es nur seine Morgentoilette – bestand aus einer alten, mit mächtigen Flecken besetzten ledernen Kniehose und einem unendlich groben Linnenhemde.

Stolz aufgerichtet und einem König gleich, der auf hoher Warte sein Reich überblickt, stand der Alte so auf einem Felsvorsprung, begrüßte mit dem frohen hellen Auge seine alten Nachbarn, die gewaltigen Bergriesen rings herum, und schaute dann wieder forschend in’s Thal hinab, das jetzt allmählich aus dem Zwielicht trat. Mit Behagen lüftete er das Hemd am Halse und ließ die kühle Morgenluft über die entblößte gebräunte Brust streichen, indeß das lange graue Haar im Winde flatterte.

Ein Leben voll Gefahr und Wagniß hatte Anderl’s Glieder gestählt und seinen Geist frisch und rege erhalten. Ohne Grundbesitz, ein armer Wildheuer, genoß er von den Besitzern der umliegenden Alpenwirthschaften das Privilegium, an den fast unzugänglichen Stellen das Gras für sich mähen zu dürfen. Zwischen Klammen, an Hängen, Vorköpfen und steilen Begleiten, wo nur die Gemse heimisch war oder der Alpenhase seine Aeßung suchte, schwang er die Sense oder schnitt, festgebunden an einem Seile, mit der Sichel die würzigen Kräuter und saftigen Gräser ab.

Neben den Mühen aber, für den langen Winter seine Ziegen und eine Kuh in solcher Weise mit Futter zu versehen, war das Fallenstellen für den Heu-Anderl die beste Erholung und sein liebstes Vergnügen. Zog er auch anscheinend ganz harmlos beim Tagesgrauen mit Sichel und Sense zu Berge, hoch oben, wo nur kahle Schroffen und zerrissenes Gestein den Beginn der Schneeregion bilden, besaß der schlaue Alte ein gar gutes Versteck für seinen Stutzen. Bei mancher Last im Heutuch, die er, mit den Steigeisen sich einkrallend und mit dem schwerbeschlagenen Bergstock vorstechend, mühsam abwärts schleppte, war oft ein fetter Gemsbock der schwerste Theil.

Lächelnd schaute der Alte auf den kaum zwölfjährigen kräftigen Buben, der auch nur mit einer geflickten zwilchenen Kniehose und einem Hemde aus Sackleinewand bekleidet war und mit vier prächtigen Ziegen lustig aus der Stallthür des kleinen, ärmlichen, an den Berg gelehnten Häuschens sprang. Begierig guckte Glaasei eben wieder nach dem großen Raubvogel aus. Dieser erschien jetzt schon viel größer, er senkte sich ohne Flügelbewegung in weiter Schraubenwendung immer tiefer herab. Plötzlich hing er wie festgebannt in den Wolken. Er mußte eine Beute endeckt haben, und wirklich schoß er nun pfeilschnell in schiefer Richtung aus der Höhe und verschwand vor den Augen des nachstarrenden Knaben hinter einer Bergkuppe.

Von der hochgelegenen Hütte unseres Alten überblickte man gegen Norden eine unabsehbare Ebene, die damals, in den Zwanziger Jahren, noch von keiner Bahnlinie durchschnitten, von keiner Locomotive durchbraust war, jenes wunderschöne Thal, durch das der Inn seine grünen Fluthen in unzähligen Windungen führt. Aus den Mooren und Moosen seiner kleinen Inseln stiegen jetzt leichte Nebelschichten auf, die sich schleierartig an die Berge hingen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 285. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_285.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)