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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

München noch nicht eine intensive Färbung erhalten haben, so muß man bedenken, daß wir erst am Anfange der Reform stehen. Allein in diesen Kampf haben sich so eminente Geister hineingewagt, daß ein lohnendes Resultat unstreitig daraus entsprießen muß.

In diesem Kampfe gegen religiöse Erstarrung und Fortschrittslosigkeit, gegen unbedingte Unterwürfigkeit unter den Papst, in diesem Streite um die Befreiung des Volkes von der kirchlichen Hierarchie ragt „hochhäuptig über Alle, die selbst gewaltig sind“, eine imposante Greisengestalt hervor, die man nicht wieder vergißt, wenn man sie einmal gesehen hat, ein Mann mit den ernsten Zügen des Pädagogen, der hohen Stirn des Denkers und dem scharfen Blicke des Menschenkenners: Augustin Keller, Mitglied des Regierungsrathes des Cantons Aargau und Präsident des schweizerischen Ständerathes.

Augustin Keller.

Augustin Keller’s Geburt fällt in die Periode der staatlichen Entwickelung des Cantons. Es war vielleicht gerade der rohe, unfertige Zustand dieses neuen, dem bernischen Patriziate entwundenen und in eine eigene aargauische Aristokratie verketteten Staatswesens, sowie die noch immer feindselig einander gegenüberstehenden confessionellen Verhältnisse, was so mächtig zu der spätern Geistesrichtung Keller’s beigetragen und in ihm den Wunsch rege gemacht haben mag, an dieser geistigen Befreiung zu arbeiten.

Augustin Keller wurde den 11. November 1805 in dem Freiämter-Dorfe Sarmenstorf geboren. Seine Eltern waren strengkatholische, brave, thätige Landleute und Besitzer eines mittlern Bauerngutes. Als das älteste von elf Kindern mußte Augustin vom achten Jahre an bei den vielen landwirthschaftlichen Arbeiten, die der Familie oblagen, wacker mitwirken; er erhielt dadurch eine Vertrautheit mit den ländlichen Geschäften und gewann eine bedeutende Kenntniß der Bedürfnisse und der Zustände des Volkes, die ihm später in mehrfachen Beziehungen zum Nutzen gereichte. Von seinen Eltern ursprünglich zum Schreiner bestimmt, hatte er, zweiundzwanzig Jahre alt, doch das Glück, die Universitäten Breslau, München und Berlin beziehen zu können, wo er den unmittelbaren Unterricht der besten Lehrer genoß, und kehrte, durch die Wissenschaft für den Beruf des Lehramtes gebildet, durch die Burschenschaft aber und das Leben in trefflichen Familien für die Theilnahme am politischen und socialen Leben empfänglich, im Herbst 1830 mit der ihm befreundeten Familie des Graubündner Landammanns Steiner über Wien, wo ein längerer Aufenthalt gemacht wurde, durch Tirol und das Engadin in seine Heimath zurück, wo es ihm, nach kurzem Aufenthalt in Luzern, bald möglich war, als Director des neu entstandenen Aarauer Lehrerseminars seine Kenntnisse und seinen Einfluß auf das Segensreichste zu verwerthen.

Die wichtigste und eigenthümlichste Verbesserung, welche der neue Director am Lehrerseminar einführte, ist die bis zum heutigen Tage noch bestehende Verbindung der Landwirthschaft mit demselben. Er bezweckte damit wohlfeilere Lehrerbildung, bessere Disciplin, eine Erziehung der Lehrer zu einer ihren künftigen Verhältnissen entsprechenden Lebensweise und innigere Verbindung der Volksschule mit dem praktischen Leben. Dieser Zweck wurde vornehmlich dadurch erreicht, daß Keller das, was er von dem Volksschullehrer forderte – Feder und Karst nebeneinander zu führen, zu lehren und zu arbeiten, Kopf, Herz und Hand gleichzeitig auszubilden – als Director selber vormachte. Es war die schönste Zeit des neuen, aber weltlichen Cisterzienser-Abtes von Wettingen in seinem pädagogischen Wirken: im Lehrsaale Unterricht in der Muttersprache und Pädagogik, im Feld mit Sense, Sichel und Karst an der Spitze der fröhlichen Zöglinge, daheim im herzlichen Kreise trefflicher Collegen und ihrer Familien.

Die Erfahrungen und Kenntnisse, welche sich Keller bei diesen landwirthschaftlichen Arbeiten erwarb und die er in Vereinen vielfach verwerthen konnte, haben ihm unter der Bauernschaft eine hohe Volksthümlichkeit geschaffen; sein Name lebt in Aller Munde. Schon das Kind lernt frühzeitig seinen Namen nennen, denn die Lesebücher, die Keller für die verschiedenen Altersstufen der Volksschule geschrieben, sind durch jedes Schülers Hand gegangen; auch für den katechetischen Unterricht des Lehrers sind von ihm vortreffliche Bücher vorhanden. Sein ganzes Leben hindurch blieb er den Bestrebungen für Verbesserung der Schulzustände und der Lehrmethoden treu; er suchte auch fortwährend die sociale Stellung der Lehrer zu verbessern, weshalb auch diese insgesammt mit dankbarer Liebe an ihm hängen.

Gehen wir von der Betrachtung der lehramtlichen Wirksamkeit Keller’s, deren weitere Entwicklung wir im Einzelnen um so weniger hier verfolgen können, als sie ihren segensreichen Einfluß zunächst doch nur auf die localen Verhältnisse selbst ausübte, zu der staatsmännischen über, so haben wir der Zeitfolge nach kaum einen Schritt zu thun, denn die letztere reicht in die Periode der erstern hinein. Die politischen Ereignisse, an denen Keller einen hervorragenden Antheil nahm, greifen mit ihren Wurzeln bis in’s Jahr 1834 zurück. Die damaligen fortwährenden Conflicte mit der katholischen Geistlichkeit veranlaßten aufgeklärte Staatsmänner von sieben Cantonen, worunter sich auch der Aargau befand, eine gemeinsame Politik der römischen Curie gegenüber anzubahnen und die Staatsrechte in Kirchendingen wieder auf einen festen Grund zu stellen. Auf einer Conferenz zu Baden wurden vierzehn Artikel über den Umfang der staatlichen Aufsicht in kirchlichen Dingen beschlossen. Die meisten der aufgestellten Grundsätze waren nicht neu, ihre consequente Durchführung und Befolgung mußte allmählich zu einem schweizerischen Staatsrechte in Kirchensachen führen und den bisherigen Uebergriffen und Willkürlichkeiten der geistlichen Gewalt eine entschiedene Schranke setzen. Der Aargau ging unverzüglich an die Ausführung dieser Artikel; er beschränkte das freie Verwaltungsrecht der großen reichen Klöster Muri und Wettingen und der kleineren durch schlechte Wirthschaft verarmten Klöster zu Baden, Bremgarten, Hermetschwyl, Gnadenthal und Fahr, und forderte von den Geistlichen den Eid auf die Verfassung. Ein kleiner Revolutionsputsch entstand, der zu den Wirren der späteren Jahre den Grund legte.

Als später die Revision der Staatsverfassung an die Tagesordnung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 305. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_305.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)