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Seite:Die Gartenlaube (1872) 323.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

und dann ging es links auf ganz schmalem Fußwege den Berg hinauf. Waldesnacht, die wunderkühle, umgab uns, während draußen die heiße Junisonne brütete. Gewaltige Felsblöcke, mit üppigem Moos bedeckt, ruhen unter den alten Buchen, spielende Sonnenlichter huschten durch das dichte Blätterdach und kosten mit den graziösen, schwankenden Farrenkräutern. Nur leise athmete der Wald, wenn der Südwind die Blätter küßte. Droben, am Waldesausgange aber fand ich, mit dichten Brombeerranken und dunkelm Epheu umzogen und von versunkenen, schönen Tagen träumend, zwei Ruinen: Lützelburg und Rathsamhausen. Beide sind so dicht aneinander gebaut, daß sie jetzt einer einzigen Ruine gleichen.

Der Berg, auf dem sich die beiden schönen Ruinen befinden, heißt der Humburgerberg. Auf der Weiterwanderung halten wir in einem schmucken Bauernhäuschen, das unfern von den Ruinen liegt, kurze Rast. Milch, Schwarzbrod und ausgezeichneter Zellenhonig werden uns von der freundlichen Wirthin gereicht. Auf dem Kamme des Berges sehen wir Brockenbilder. Kurzes Gras, verkümmerte Föhren, üppiges Haidekraut bilden die Vegetation. Köhler und Holzfäller begegnen uns. Sie kommen vom Kloster, dessen schieferbedeckte Wand hinter uralten Linden dunkel hervorschaut. Vor dem Kloster, etwa achtzig Schritte von ihm entfernt, steht seine Reliquie. Sie ist nicht auf dunkelm Altare eingeschlossen, auch nicht in goldenem Sarge, in dunkler Krypta aufbewahrt, wie diejenige von St. Marcus in Venedig. Aber sie ist gewiß ebenso alt, wenn nicht älter, als die kerzenbeleuchtete, goldgefaßte venetianische. Ihr fehlen allerdings die Attribute, Bischofsmütze und Krummstab, auch die purpurnen gold- und silbergestickten Gewänder, die glänzende Stola, welche die gläubige Menge küßt. Sie hat nur ein unscheinbares, hölzernes Röcklein als einziges Kleid und besteht aus nichts als einem uralten, hohlen Lindenstamm, in dem ein kleines Bildniß der Stifterin des Klosters, St. Ottilie, angebracht ist. Jung und Alt wallfahrtet zu dieser Reliquie, und wer vorbeigeht, pflegt wie auf der Prager Bruck vor dem heiligen Nepomuk den Hut abzunehmen, Viele schlagen auch kleine Nägel mit Blechstückchen ein, nicht als Herzwunden, wie vor dem Heiligen in Böhmen, sondern um die alte morsche Rinde, welche sich vom Stamme ablöst, wieder zu befestigen. Eine andere Stätte, die sich desselben Zulaufs und derselben Verehrung erfreut, ist die Ottilienquelle, deren kühles Wasser alle Augenleiden abhalten und heben soll. Wie gesagt, ist die Quelle hochverehrt und viel besucht; die meisten Fremden aber gehen wohl herauf, um in dem stillen Kloster auf einige Tage Gastfreundschaft und Sommerfrische zu genießen.

Prächtige hohe Linden wiegen ihr Haupt vor dem Eingange des Klosters, dessen ganze Façade mit Schiefer zum Schutze gegen die rauhe Wetterseite bedeckt ist. Die Stifterin des Klosters thront als Statuette über dem Eingange. Wir gelangen durch das Thor in den ersten Hof, auf dem sechszehn alte Linden, wahre Prachtstücke für die Mappe eines Landschafters, ihre grünen bemoosten Zweige mit dem frühlingsgrünen Laube emporstrecken. Rechts ist eine „Hotelleria“, aber ohne den sonst im Elsaß auf den Wirthshausschildern üblichen Zusatz: „Logirt zu Fuhß und zu Pfahrdt“ (zu Pferd). Die „Hotelleria“ ist zur Erquickung für Passanten erbaut, welche im Kloster nicht Nachtquartier nehmen wollen; neben ihr steht eine kleine Bude mit „Führern in das Kloster und seine Umgebung“, und Heiligenbildern etc. Links sind die Wohnungen der „Brüeder“, wie die Chorsänger von den Nonnen genannt werden. Außer ihren gesanglichen Functionen haben sie Handwerkerarbeiten für das Kloster zu verrichten. Der Tenorist ist Schuster und Sattler in einer Person, der Baritonist ist Stellmacher etc. Ferner befinden sich in dem Hofe die Stallungen für zwei Pferde, einen Esel, Kühe und für einige grunzende Vertreter der Thierwelt. Rechts vom Eingange steht die unscheinbare Kirche des Klosters, ein schlichtgothischer Bau, im Innern ohne bestimmten Stil. Moderne Säulen tragen die Wölbungen. Die sehr reich geschnitzten, großen Beichtstühle haben das Aussehen von Schränken.

Dann treten wir in den zweiten, den eigentlichen Klosterhof ein, der von den Gebäuden eingeschlossen ist, in denen sich die Zellen der Nonnen befinden. Rechts an der Thür läuten wir, die laute Klosterglocke drinnen tönt und eine „Schwester“ fragt im elsässischen Dialect nach unserem Begehren.

„Ich bitte um ein Zimmer für einige Tage, wenn möglich, mit hübscher Aussicht!“

„Sind Sie ganz allein?“ frug mich die Pförtnerin mehrere Male.

„Ja, ohne Frau und Kind.“

Die Schwester führte mich zu der Aebtissin, einer alten, freundlichen Dame, der ich mich vorstellte. Gleich darauf wurde mir ein Zimmer im zweiten Stock des Klosters angewiesen. Dasselbe war spiegelblank geputzt; drei Stühle, ein Tischchen, Schrank und Bett, über diesem ein sehr hübsch aus Elfenbein geschnitztes Crucifix, bildeten das Inventar. Das Fenster bot eine entzückende Aussicht, zunächst in den Klostergarten, der dicht vor mir lag, und darüber hinweg unendlich weit in das tief zu Füßen liegende Thal. Am fernen Horizonte taucht die Pyramide des Straßburger Münsters empor, hinter ihr ein glänzender Streifen, der Rhein, und die blaue Ferne, Alt-Deutschland. Ober-Ehnheim, St. Nabor sind ziemlich nahe gerückt, in der Tiefe, weiter, viele andere Ortschaften, deren Namen ich nicht kannte.

Ich wurde dort oben lebhaft an die Rigi-Aussicht erinnert. Es fehlen zwar die so und so viel Seen, von denen man viele nur mittelst Fernrohr erkennt; auch die gewaltige Pyramide des Pilatus steht nicht hinter uns, wenn wir den Blick in’s Flachland senken; aber gerade die Aussicht auf die Ebene nahm mich auf dem Rigi gefangen und an sie erinnerte ich mich auch hier in dem stillen Elsässer Nonnenkloster. Die Elsässer wissen die Aussicht zu schätzen. Das Ottilienkloster steht deshalb bei Allen in hohem Ansehen. Im vorigen Sommer hatten sich die Wogen des vergangenen Krieges noch nicht geglättet, drum sah ich nirgends Etwas von den sonst so zahlreichen Touristen und auf dem Ottilienkloster war ich der einzige Gast unter den Nonnen. Schwester Sabine rief mich zum Abendessen. Ich war neugierig, die Nonnen beim Abendessen zu sehen, und hatte im Stillen darauf gerechnet, mit ihnen zusammen speisen zu können. Etwa zehn bis zwölf Nonnen saßen denn auch bei der Tafel im Refectorium, die Aebtissin unter ihnen; ich wurde jedoch in einen andern Saal geführt, wo ich allein speiste. Bald leistete mir die „Frau Müetter“, wie die Aebtissin genannt wurde, Gesellschaft.

„So, so, Sie sind Maler; nun, dann wird’s Ihnen bei uns hier oben gewiß gefallen, wenn Ihnen sonst das Kloster nicht zu still ist. Den Herren Künstlern wurde es immer schwer, von hier abzureisen. Und, darf ich fragen, was für ein Landsmann?“

„Ja, Frau Mutter, das ist jetzt so eine Sache. Was würden Sie dazu sagen, wenn ich ein Preuße wäre?“

„Da wären Sie mir nicht ganz willkommen,“ antwortete sie lächelnd.

„Nun, dann sage ich Ihnen auch nicht, daß ich einer bin.“ Sie nahm mir meine Landsmannschaft denn auch nicht übel, hatte sie doch wohl gleich aus meiner Sprache dieselbe geahnt.

„Jetzt muß ich Sie aber auch noch mit unserm Herrn Director bekannt machen,“ sagte sie zu mir nach Tische. „Er wohnt oben im dritten Stock und ist der Geistliche des Klosters, welcher an Sonn- und Feiertagen die Messe celebrirt und sonst auch noch die Verwaltungsgeschäfte des Klosters besorgt.“

Wir saßen im Studirzimmer des geistlichen alten Herrn. Die Unterhaltung wurde leise geführt, drehte sich auch hier um Landsmannschaft, Zweck der Reise u. A. Die Sonne ging hinter den Bergtannen der Vogesen unter, und bald hatten sich die blauen Schatten der Dämmerung über die Höhen und weiten Thäler gebreitet. Wir verabschiedeten uns. Die Frau Mutter, welche keineswegs das Wesen einer strengen Aebtissin hatte, lud mich ein, in’s Gastzimmer zu kommen und es mir dort bequem zu machen, als ob ich zu Hause wäre. Die mir dargebotenen Schlafschuhe mußten angezogen werden, und ich fühlte mich dort wirklich ganz behaglich. Die Frau Mutter zündete eine kleine Lampe an und fragte mich, ob ich die Legende des Klosters kenne. Ich verneinte dies und bat um deren Erzählung.

„Die heilige Ottilie, unsere Patronin, kam blind zur Welt. Ihr Vater, der Herzog Adalrich von Elsaß, auch Atticus genannt, wünschte aber lieber einen Sohn zu haben; um keine Nachkommen von seiner Tochter zu sehen, beschloß er sie zu tödten. Die Amme aber floh mit dem Kinde nach einem der Klöster der Bourgogne, wo die junge Tochter, wie man sich erzählt, in dem Augenblick der Taufe, sehend wurde. Später gewann die heilige

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 323. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_323.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)