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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

1) Es ist ein großer Irrthum, wenn man annimmt, ein solches Ergrauen sei die Folge einer vorausgegangenen erschöpfenden Lebensweise. Viele tausend Menschen würden ihr graues Haar ohne Scheu offen tragen, wenn sie nicht wüßten, daß bei ihren Nebenmenschen jener Irrthum, jenes Vorurtheil besteht. Ich will hiermit sehr entschieden gegen dies Vorurtheil ankämpfen! Es raubt dieses Vorurtheil vielen Tausenden ihr ruhiges Lebensbehagen – ich möchte, so weit ich vermag, ihnen dasselbe wiedergeben. Es handelt sich bei solchem Ergrauen um einen örtlichen Krankheitszustand, der nicht das Allermindeste mit Excessen, mit durchwachten Nächten oder mit schweren Lebenssorgen zu thun zu haben braucht, der vielmehr allein Folge einer Ernährungsstörung der Kopfhaut ist.

2) Es ist ein ganz falscher Rath, der vor Jahrhunderten von Aerzten gegeben worden und jetzt von Laien in schlechten populär-medicinischen Schriften wiederholt wird: man solle entweder dem Gesammtkörper durch die Nahrung oder der Kopfhaut direct durch Einreibung Stoffe zuführen, welche reichlich Farbnährstoffe enthalten. Vor Jahrhunderten, als die Medicin nur unklare Vorstellungen über den Gang des menschlichen Stoffwechsels hatte, glaubte man, ein Deficit im Körper einfach dadurch ausgleichen zu können, daß man die bezüglichen Stoffe dem Körper oder dem leidenden Theile einverleibte; die geläuterten Anschauungen der Gegenwart haben gelehrt, daß dies nicht einfach so angeht, weil die Organe erkrankt sind und weil sie wegen ihres Krankheitszustandes nicht die Fähigkeit haben, die ihnen fehlenden Stoffe sich anzueignen. Es mangelt beim vorzeitigen Ergrauen dem Körper, d. h. dem kreisenden Blute, keineswegs an Farbstoff, vielmehr hat nur die kranke Kopfhaut nicht die Fähigkeit, diesen Farbstoff aus dem Blute anzuziehen.

Woher rührt nun dies verringerte Anziehungsvermögen der Kopfhaut?

In sehr vielen Fällen ist dieser Mangel von den Eltern oder den Großeltern ererbt, er findet sich dann meist bei mehreren Mitgliedern der Familie. In anderen Fällen ist er der Ueberrest oder die Nachwirkung einer andern Krankheit der Kopfhaut; besonders pflegen zwei Krankheitsarten diese Folge zu haben: Ablagerung von Pilzen (Erbgrind) und die umschriebene (rundfleckige) Kahlheit (ein höchst merkwürdiger Leidenszustand, bei welchem rundliche Kahlheiten mitten im üppigen Haarwuchs entstehen). Selten erzeugt eine acute örtliche oder allgemeine Krankheit (Kopfrose, Nervenfieber, Unterleibsentzündung) vorzeitiges Ergrauen.

Es ist interessant und es ist für das Verständniß des Processes wichtig, den Unterschied zwischen einem grauen Haar und einem gefärbten bei mikroskopischer Betrachtung zu untersuchen. Man findet bei einer solchen Untersuchung eines farbigen Haares (am besten bei einer Linearvergrößerung von zweihundert bis dreihundert und darüber) den Farbstoff in doppelter Form abgelagert; es zeigen sich erstens die einzelnen Zellen oder Fasern, welche das Haar zusammensetzen, von einer aufgelösten Farbe durchtränkt, und zweitens finden sich in jeder Zelle kleine Farbekörnchen eingelagert; die größere oder geringere Dichtigkeit, in welcher diese Körnchen liegen, bedingt in erster Linie den Sättigungsgrad der Haarfarbe. Die Kopfhaare eines Menschen haben keineswegs eine und dieselbe Farbenstärke (die meisten Leser werden, wenn sie einmal eine kleine Sammlung ihrer ausgefallenen Haare aufmerksam betrachten, überrascht sein, wie bedeutende Farben-Nüancen ihr scheinbar gleichmäßig blondes oder gleichmäßig braunes Haar zeigt; prüft man zwei benachbarte Haare von ungleicher Farbenstärke (gewöhnlich haben sie auch eine ungleiche Dicke, aber das dunkle Haar ist das dünnere – im Gegensatz zu krankhaften Zuständen, in denen das dünnere Haar zugleich heller wird), so findet man bei beiden Haaren die gleiche Grundfarbe, es zeigen auch die einzelnen Farbekörnchen völlig den gleichen Farbenton, aber sie liegen in dem dunklen Haar erheblich dichter; durch diese innigere Zusammenhäufung erzeugen sie die tiefere Sättigung.

Der Proceß des Ergrauens vollzieht sich nun so, daß die Pigmentkörnchen nicht mehr gleichmäßig durch die ganze Dicke des Haares abgelagert werden; sie schwinden zunächst aus den äußersten Randschichten, und je mehr das Haar bei seinem Fortwachsen von Farbig-Grau zu reinem Weiß übergeht, desto mehr weichen die Farbenkörnchen aus der Peripherie nach der Mitte zurück, bis sie schließlich auch im Centrum nicht mehr vorhanden sind. Der aufgelöste Farbestoff hingegen dauert erheblich länger aus; er hat freilich nur einen geringen Einfluß auf die Farbe, mit der das Haar erscheint, aber daß es nicht ganz weiß aussieht, sondern noch einen Farbenschimmer behält, das verdankt es diesem aufgelösten Pigment.

Die Frage, was ärztlicherseits gegen dies vorzeitige Ergrauen geschehen könne, zerfällt naturgemäß in folgende Einzelfragen:

1) Ist man im Stande, dort, wo die erbliche Anlage (durch das Erscheinen bei älteren Geschwistern) constatirt ist oder wo sie sich vermuthen läßt, das Eintreten des Ergrauens zu verzögern?

Diese Frage kann ich bejahen. Ich rathe, in einem solchen Falle genau die Vorschriften zu beachten, welche ich in den früheren Aufsätzen über die diätetische Frage eines empfindlichen Haares gegeben habe; ein solcher Kopf will in der Kindheit und in der Jugend mit Schonung behandelt werden; alle Reizmittel (viel Wasser mit Seife, mit Spirituosen, viel Brausebäder) sind zu vermeiden. Vom sechszehnten oder achtzehnten Lebensjahre an lasse man jährlich einmal die Haare der Schläfengegend mikroskopisch untersuchen, damit festgestellt werde, in welcher Menge die Farbekörnchen vorhanden sind, in welcher Schicht des einzelnen Haares sie sich besonders reichlich finden. Es läßt sich über das Herannahen der Gefahr auf diese Weise Gewißheit erhalten, und man kann sie drei bis fünf Jahre früher erkennen, als sie dem bloßen Auge erscheinen würde.

2) Ist man im Stande, wenn der Anfang des Leidens bereits offenkundig geworden, sein Vorschreiten zu verhindern?

In vielen Fällen gelingt dies; es bleibt dann das Ergrauen eine lange Reihe von Jahren nur auf die Stellen, an denen es sich zuerst gezeigt, beschränkt. Allein zur Erreichung dieses Zieles bedarf es einer vom Arzt geleiteten kostspieligen Cur, die seitens des Patienten mit Exactheit viele Monate hindurch ausgeführt werden muß; es ist unmöglich, hierfür (wie für das erste Stadium des Haarschwundes) allgemein gültige Regeln zu geben: der einzelne Fall muß in seiner Eigenthümlichkeit erfaßt und behandelt werden. Ich rathe deshalb zu einer solchen Cur nur in denjenigen Fällen, in welchen dem Patienten oder seinen Angehörigen sehr viel daran gelegen ist, das weitere Vorschreiten des Ergrauens zu verhindern.

3) Vermag die ärztliche Kunst, wenn das Leiden bereits einen größeren Theil der Haare ergriffen hat, die übrigen zu schützen, oder vermag sie gar zu bewirken, daß der Nachwuchs der grauen Haare wieder die frühere Farbe erhalte?

Ich muß diese Frage verneinen.

Es sind mir zwar eine Reihe von Fällen mitgetheilt worden, in denen bei Männern und Frauen selbst in vorgerückten Jahren das schon ergraute Haar wieder dunkel wurde, allein diejenigen Fälle, welche ich selbst gesehen habe oder in denen man mir die Haare zur mikroskopischen Untersuchung einschickte, bewiesen, daß eine irrige Auffassung des früheren Beobachters vorlag: es waren nämlich früher farbige und weiße Haare gemischt gewesen und sie waren es auch jetzt noch.

Ich muß übrigens ausdrücklich bemerken: physiologisch unmöglich ist es nicht, daß auf ein graues Haar ein farbiger Nachwuchs eintrete; ich habe in einem früheren Aufsatz erwähnt, daß bei Greisinnen ein und dasselbe Haar einen mehrfachen Farbenwechsel zeigen kann, d. h. daß ein Haar streckenweise weiß, dann dunkel, dann wieder weiß und schließlich (also in dem zuletzt gebildeten Theil) wieder dunkel erscheint; es kann mithin eine und dieselbe Haarbildungsstätte die schon verlorene Kraft, Farbekörnchen zu bilden, sich wieder aneignen; aber für den gesammten Haarwuchs des Kopfes ist ein solcher Fall glaubwürdig (d. h. von einem Arzt, der sich durch die nothwendigen mikroskopischen Untersuchungen gegen Irrthum und Täuschungen gesichert hätte) noch nicht beobachtet.

Ich wiederhole: physiologisch unmöglich ist es nicht, und wenn einmal mehrere solche Fälle von Aerzten längere Zeit hindurch beobachtet würden, ließe sich hoffen, daß die Bedingungen für die Wiedergewinnung der Farbekörnchen-Anziehung erkannt würden und daß in weiterer Folge sich auch die Möglichkeit fände, diese

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_375.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)