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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Beispiel von Frömmigkeit, Bescheidenheit und himmlischer Geduld empfohlen. Man erzählt von ihm viele Züge, welche die schönen Eigenschaften seines Geistes und Herzens bekunden.

Den guten Hillel zu lieben, der in seiner Milde immer zu ihren Gunsten sprach, hatten die Frauen übrigens um so mehr Grund, als andere Schriftgelehrten sich über sie oft manche spitze Bemerkung erlaubten. So fragt Einer derselben, warum Gott so grausam war, dem armen Hiob alle seine Güter zu nehmen und ihm just sein Weib zu lassen, das sein Unglück ja noch vermehren mußte? und er beantwortete die Frage damit, daß dies der Herr aus purer Barmherzigkeit gethan; denn da er beschlossen, ihm Alles, was er ihm genommen, doppelt wieder zu geben, hätte er ja Hiob, wenn er ihm auch sein Weib genommen, zwei Weiber geben müssen, was keine Belohnung für die ausgestandenen Leiden, sondern im Gegentheil ein neues und sehr hartes Unglück gewesen wäre.

Von Hillel erzählt der Talmud folgende Geschichte: Zwei reiche Leute machten einst folgende Wette. Der Eine behauptete, Hillel’s Geduld sei durch nichts in der Welt zu erschüttern; der Andere versicherte, daß er es fertig bringen könne, den sanften Gelehrten in den Harnisch zu jagen. Der Wettpreis bestand in der Summe von hundert Silbersekeln.

Der Eine der Wettenden nun, der Hillel außer Fassung bringen wollte, ging an einem Freitag Nachmittag in dessen Wohnung und rief mit Zeterstimme:

„Heda, Hillel! Wo steckt Hillel?“

Der Rabbi, der gerade im Begriff stand ein Bad zu nehmen und dann die Sabbathkleider anzulegen, hörte das Geschrei, warf einen Mantel um, trat zu dem Fremden und sagte: „Was willst Du von mir?“

„Bist Du Hillel?“ schrie ihn Jener an.

„Ich bin Hillel,“ antwortete der Rabbi in sanftem Tone.

„Ich komme, Dich zu fragen, warum die Babylonier spitze Köpfe haben?“ sagte der Mann.

„Die Babylonier haben spitze Köpfe,“ antwortete Hillel, „weil ihre Wehemütter es nicht verstehen, die Kinder bei deren Geburt naturgemäß zu behandeln.“

Der Mann entfernte sich, und Hillel kehrte in sein Zimmer zurück. Es dauerte aber nicht lange, als Jener wieder kam und mit fürchterlicher Stimme schrie:

„Heda, Hillel! Wo ist Hillel?“

Hillel erschien und fragte sanft: „Mein Sohn, was begehrst Du?“

„Ich komme, Dich zu fragen, warum die Termudier an Augenentzündungen leiden?“ sagte der Fremde.

„Weil sie in sandigen Gegenden wohnen und ihnen der beißende Staub in’s Gesicht weht,“ antwortete der Rabbi.

Der Mann entfernte sich; aber kaum hatte Hillel sein Zimmer wieder betreten, als dieselbe Stimme abermals schrie:

„Hillel! Wo steckt Hillel?“

Ruhigen Schrittes trat dieser vor den Fremden und sprach sanft und mild:

„Mein Sohn, hast Du noch eine Frage an mich zu richten?“

„Freilich! Freilich!“ sagte der Fremde. „Warum haben die Afrikaner breite Füße?“

„Weil sie an der Küste auf lockerem feuchten Boden leben und barfuß gehen,“ antwortete Hillel.

Nach einer Pause begann der Fremde wieder:

„Ich hätte wohl noch mancherlei zu fragen, allein ich fürchte, Du könntest ungeduldig werden.“

„Frage getrost, mein Sohn,“ antwortete der Rabbi, „ich bin gern bereit, Dir zu antworten.“

Und mit diesen Worten setzte er sich auf eine Bank und harrte der Rede des Fremden entgegen.

Dieser war in keiner geringen Verlegenheit; denn er sah die Gefahr, seine Wette zu verlieren. Er entschloß sich also, das Aeußerste zu versuchen, um den Rabbi in Wuth zu bringen. Frech und unverschämt fuhr er plötzlich heraus:

„Bist Du Hillel?“

„Ich bin Hillel,“ erwiderte der Rabbi sanft.

„Hillel, den man den Ersten unter den Juden preist?“

„Ich bin Hillel,“ wiederholte er.

„Nun, ich wünsche,“ rief der Andere, „daß Israel nicht Viele Deines Gleichen zähle.“

„Und warum nicht?“ fragte Hillel lächelnd.

„Weil Du mir einen Verlust von hundert Silbersekeln zuziehst,“ sagte Jener. „Ich habe diese Summe gewettet, Dich aus Deiner ruhigen Fassung zu bringen, und ich sehe nun, daß mein Geld dahin ist.“

„Hoffentlich hast Du dadurch gelernt,“ bemerkte Hillel, „stets die Seelenruhe zu bewahren und Dich niemals zu wildem Zorn hinreißen zu lassen. Es ist auch besser, Du verlierst durch Deine thörichte Wette hundert Silbersekel, als daß ich meine Gemüthsruhe und meine Besonnenheit verliere.“ –

Der weise und sanfte Hillel lebte vor Jesus Christus. –

Meine Großmutter erzählte gern allerlei Fabeln und Legenden und wußte dabei meine Aufmerksamkeit im höchsten Grade zu fesseln. Sehr anziehend war die Geschichte vom Dalles. Dieselbe hat sich meinem Gedächtniß so fest eingeprägt, daß ich sie wörtlich, wie meine Großmutter sie erzählt hat, hier niederschreiben kann.

Einmal kam ein dürftiger Mann in ein Haus und bat um Unterstützung. Der Hausherr und seine Gattin waren gutmüthige Leute; sie luden den armen Gast zu Tisch und erquickten ihn mit den besten Bissen. Nach Tische fragte der Fremdling den Wirth, ob er ihn nicht über Nacht beherbergen wollte? Worauf die Gattin zu ihrem Manne sagte: „In der Dachkammer ist Raum genug, um den Fremden unterzubringen.“ Man wies also dem wegemüden Manne ein Obdach an.

Am andern Morgen glaubte das Ehepaar, der Fremdling würde seinen Weg fortsetzen. Sie täuschten sich aber gewaltig. Der Fremdling kam vielmehr zur Essenszeit in’s Zimmer, setzte sich an den Tisch und ließ nichts auf dem Teller zurück. Nach der Mahlzeit ging er wieder in die ihm angewiesene Bodenkammer.

Mehrere Tage, mehrere Wochen vergingen; aber der Fremdling, statt sich für die so lange genossene Gastfreundschaft zu bedanken und endlich den Wanderstab wieder zu ergreifen, kam nach wie vor regelmäßig zu Tisch, aß mit immer gesteigertem Appetit und suchte nach der Mahlzeit die Bodenkammer auf. Mann und Frau wurden über diesen Mißbrauch der Gastfreundschaft um so bestürzter, als sie durchaus nicht in blühenden Verhältnissen, vielmehr im Rückgang waren und kaum genug hatten, sich selbst zu ernähren. Dabei waren sie so gutmüthig und zartfühlend, daß sie es lange nicht über sich vermochten, dem Fremdling die Gastfreundschaft zu kündigen. Allein am Ende war es ihnen nicht mehr möglich, diesen dritten Mund zu speisen. Die Frau sagte daher zu ihrem Manne: „Gehe zu dem Fremden und sage ihm, daß wir ihn gern noch länger im Hause behalten würden, wenn wir in besseren Umständen wären, daß wir aber schlechterdings die Gastfreundschaft nicht länger fortsetzen können.“

Das war für den gutmüthigen Mann ein saurer Auftrag. Er faßte sich indessen ein Herz, ging hinauf in die Bodenkammer zu dem Fremdling und sagte ihm: „Mein Freund, ich habe die Gastfreundschaft gegen Dich treu und redlich erfüllt. Du hast mich um ein Obdach für eine einzige Nacht gebeten, und ich habe nichts dazu gesagt, daß Du mehrere Monate in meinem Hause geblieben und meinen Tisch mit mir getheilt hast, aber so schwer es mir auch wird, ich muß Dir sagen, daß ich Dich nicht länger bei mir behalten kann, denn ich bin selbst dürftig, ja, der Mangel wird täglich bei mir größer. Gehe zu einem vermögenden Manne in der Nachbarschaft, und er wird Dir gewiß ein Obdach nicht versagen.“

Der Fremdling, der auf seinem Lager behaglich ausgestreckt war, erhob sich ein wenig und antwortete:

„Was Du sagst, ist gerecht und billig. Aber siehe! mein Gewand ist so verschlissen, daß ich nicht mehr in anständiger Weise vor die Leute treten kann. Gieb mir ein besseres Gewand und ich will dann bei Anderen um Hülfe bitten.“

Der Mann hinterbrachte seiner Gattin die Worte des Fremden, worauf diese sagte:

„Ich denke, es ist besser, wir lassen ihm ein anständiges Gewand machen, damit er endlich von uns scheide, als daß wir ihn noch länger verpflegen.“

Sie ließen den Schneider kommen, der den Fremdling bekleidete, und sie erwarteten nun, daß sich dieser verabschieden würde. Wer sich aber nicht verabschiedete, war er. Er aß womöglich mit noch größerem Appetit. Je mehr er aß, desto stärker

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 394. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_394.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)