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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Muth schien über das junge Mädchen gekommen; daß sie durch Nacht und Regen, durch den unwegsamen Wald, in welchem Max wenigstens sehr bald gar nicht mehr begriff, wie sie den Fußpfad noch erkannte, und in dem eine völlige Dunkelheit herrschte; daß sie allein und unbeschützt mit dem fremden Officier dahineilte, das Alles schien nicht einen Augenblick ihren elastischen Schritt zu hemmen; der Eine Gedanke, wie sie Max in Sicherheit bringe, schien alle andere Rücksicht in ihr aufgezehrt zu haben; mit einer wie leidenschaftlichen Hast eilte sie weiter, bis sie endlich die Höhe des Berges erreicht hatte und auf einer kleinen Lichtung hochaufathmend stehen blieb. Am Tage mußte sich hier eine weite Fernsicht bieten; man sah jetzt nur über das nächste Unterholz fort und zwischen dunklen Stämmen hindurch ganz ungewisse und unerkennbare Umrisse der Thalbildung, unterschied nur, wenn man die Lage kannte, da, wo die Ferme stand, etwas, das wie dunkle Linien von Dächern und Gebäuden aussah. Von Zeit zu Zeit blitzte der Lichtschein wieder auf, ganz in der Ferne jetzt; es war allerdings, wenn er von einer Laterne eines verspäteten Wanderers herrührte, auffallend, daß er stets an derselben Stelle blieb. Ebenso auffallend war, daß ein Hundegebell sich plötzlich vernehmen ließ, von links her, von der Gegend her, wo die Straße, die zwischen den Gartenhecken begann und der Valentine ursprünglich hatte folgen wollen, die Bergseite hinauf lief; hätte Valentine nicht den Weg durch die Gärten und dann weiter hinauf durch das Gehölz eingeschlagen, so mußte man jetzt ungefähr da sein, wo der Hund anschlug, und auf seinen Führer stoßen. Dieser Ton aber schien Valentine auf’s Neue aufzuschrecken, sie wandte sich, um weiter zu eilen, über die kleine Lichtung fort und, jetzt bald bergabwärts schreitend, an der anderen Seite des Höhenrückens hinab.

„Ich bewundere Sie, wie genau Sie den Pfad durch dies Waldgestrüpp erkennen!“ sagte Max, „meinen Augen entzieht er sich vollständig.“

„Ich kenne ihn, ich bin ihn ja als Kind schon so oft gegangen,“ versetzte Valentine kaum hörbar, mit der Hand einen der nassen, sich vorstreckenden Zweige zurückbiegend, der gleich darauf gegen Maxens Brust schlug und seine Tropfen darüber schüttelte.

„Und wohin führt er, wohin führen Sie mich, Valentine? wollen Sie mir nicht endlich sagen, was eigentlich Ihre Aengstlichkeit hervorruft und weshalb Sie glauben, daß ein ganzes Corps gegen mich anrückt, weshalb Sie selbst diesen unglaublichen Weg machen und mich sich nachziehen? Verlangen Sie noch länger, daß ich Ihnen schweigend vertrauen soll?“

„Vertraue nicht ich Ihnen?“ fragte Valentine.

„Ja, bei Gott, das thun Sie, und dies Vertrauen macht mich so glücklich, daß dahinter meine Sorge um die Gefahr, aus der Sie mich retten wollen, völlig zurücktritt … ich kann nicht einmal recht glauben an diese Gefahr, die sich nur in Gestalt eines Lichtschimmers, eines in der Ferne bellenden Hundes offenbart …“

„Und doch, glauben Sie es mir, sind Sie in dringender Lebensgefahr; aber fragen Sie nicht, verlieren wir die Zeit nicht mit Reden; ich kann, ich mag Ihnen nicht mehr sagen, ohnehin sind wir dem Ziele nah, wohin ich Sie bringen will, dem sichern Asyl!“

Der Weg senkte sich jetzt plötzlich ziemlich steil abwärts; man mußte mit großer Behutsamkeit Stützpunkte für den Fuß suchen, wenn man nicht stürzen wollte, sich an den nächsten Aesten und dem Strauchwerk halten; die Füße glitten sonst auf dem losen Felsgeschiebe unsicher abwärts. Doch war es nur eine kurze Strecke; dann erreichte man ebenen Grund, die Sohle einer scharf eingeschnittenen Schlucht. Max konnte die hoch und steil an der anderen Seite der Schlucht sich erhebende Bergwand wahrnehmen. Valentine wandte sich links, die Schlucht hinauf, über ebenen glatten Rasenboden; dann ging es über Steingeröll einige Schritte weit aufwärts, und jetzt sah Max, daß er in der Oeffnung einer düster aufgähnenden Höhle stand, einer Oeffnung, die so schmal war, wie eine alte Burg- oder Gefängnißthür, auch durch den fast spitzbogigen Schluß daran erinnerte.

„In diese Höhle sollen Sie sich retten.“

„Am Ende gar die Höhle der Jungfrau?“

„Es ist die Höhle der Jungfrau. Schreiten Sie muthig hinein. Nur nicht weiter als nöthig, das heißt nicht weiter als etwa hundert, hundertfünfzig Schritt, denn dort, ganz im Hintergrunde, beginnt der Abgrund mit dem Gewässer in der Tiefe …“

„Und da hinein soll ich mich verkriechen?“

„Da hinein sollen Sie sich flüchten – Sie sind sicher da, denn Niemand wird Sie hier suchen. Zudem hat die Höhle eine feste, mit Eisen beschlagene Thür, die Sie mit einem inneren Riegel schließen können. Helfen Sie sich, so gut Sie können – wenn die Gefahr vorüber, komme ich oder sende Jemand Sie zu befreien – jetzt leben Sie wohl, seien Sie guten Muthes und Gott sei mit Ihnen. Je rascher ich wieder daheim bin, desto besser ist es. Adieu.“

Max ergriff ihre Hand. „Und in diesem Dunkel, in einem doppelten Dunkel wollen Sie mich zurücklassen, ohne daß ich eine Ahnung davon habe, was eigentlich Ihr Handeln bestimmt, Ihre Angst begründet, wie lange ich hier allein harren soll, wer der Feind ist, vor dem ich mich in diese schaurige Unterwelt verkrieche …“

„O, werden Sie hier nicht Zeit haben, sich das selbst auszudenken?“ antwortete sie, ihm ihre Hand entziehend – „wenn es nicht ein übermächtiger Feind wäre, würde ich Ihnen zumuthen, sich auf diese Art zu retten? Sie werden erlöst werden, sobald ich diesem Feinde, wenn er kommt, werde den Glauben beigebracht haben, daß Sie nach Void hinaus gegangen, und längst sicher bei den Ihren sind … und nun,“ fügte sie mit einem eigenthümlich bewegten Klange der Stimme hinzu, „nun adieu, adieu – halten Sie mich nicht – ich werde thun, was ich kann, Ihre Gefangenschaft abzukürzen – unterlassen Sie nicht, die Thür Ihres Zufluchtsortes zu schließen, wenn sie auch anfangs widersteht, weil sie lange nicht gebraucht ist – aber vermeiden Sie, Geräusch dabei zu machen – hüten Sie sich vor dem Abgrund – nochmals, Gott sei bei Ihnen!“

Valentine verschwand bei diesen Worten in der Dunkelheit, ehe Max antworten konnte. Er sah nur noch einen Augenblick lang den Umriß ihrer Gestalt die kleine Anhöhe unmittelbar vor dem Eingang der Höhle wieder hinabeilen, dann war sie auf dem Hintergrund der schwarzen Bergwand rechts verschwunden … nur ein rascher Schritt, wie sie auf dem steilen Wege wieder emporklomm, war noch eine Weile zu vernehmen.




6.


Kaum eine Viertelstunde später war Valentine wieder auf dem Hofe der Ferme; Alles lag anscheinend in friedlichster Ruhe begraben, ganz wie damals als sie den Hof mit Max verlassen – sie zog das Fenster, das Max offen gelassen, wieder zu und ging leise über die Terrasse in den Salon zurück, dessen Glasthür noch angelehnt stand; sie schloß und verriegelte diese hinter sich und huschte dann durch die dunklen Zimmer, die Treppen hinauf, oben über den Corridor. Hier sah sie einen feinen Lichtstreifen unter der Thür zu Miß Ellen’s Zimmer schimmern – Miß Ellen war also wach, hatte Licht und harrte der Dinge, die diese Nacht bringen sollte! Valentine glaubte etwas rauschen zu hören, wie wenn man ein Blatt in einem Buche umschlägt – konnte sie ruhig lesen in solch einer Stunde der Erwartung und Spannung? Vielleicht las sie – in ihrer englischen Bibel!

In ihrem Schlafzimmer angekommen, begann Valentine sich ihrer feuchten Kleider zu entledigen; nachdem sie die durchnäßten Schuhe mit Hausschuhen vertauscht, war sie eben damit fertig geworden einen Morgenrock überzuwerfen und gürtete ihn jetzt fest, als sie erschrocken inne hielt; sie vernahm ganz deutlich Stimmenwechsel draußen, nach der andern Seite des Hauses zu, also auf der vorderen Terrasse – dabei war ein Rütteln und Schütteln an einer Thür. Mit hochklopfendem Herzen nahm sie ihr Licht und im Begriff hinauszugehen horte sie Miß Ellen’s Thür sich öffnen. Im nächsten Augenblick war sie draußen auf dem Corridor, Aug’ in Aug’ mit Miß Ellen, die auf ihrem Wege zur Treppe überrascht innehielt und bei ihrem Anblick heftig die Farbe wechselte.

„Sie, Valentine?!“ rief sie aus, „… und gekleidet – was geht vor?“

„Dasselbe möchte ich Sie fragen – ich höre Stimmen draußen – man scheint in’s Haus dringen zu wollen – kommen Sie, daß wir sehen, was es bedeutet, wenn Sie es nicht wissen!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_401.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)