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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

die Neugründung einer Ameisencolonie gesehen. Und die geschah folgendermaßen.

In Soltau bei einem Freunde zu Besuch, bemerkte ich gleich am Tage nach meiner Ankunft rothe Waldameisen in dem großen schönen Garten desselben, suchte aber vergeblich nach einem Haufen. Tannen waren auch, so viel ich weiß, im Garten nicht vorhanden. Bald darauf aber, bei einem Spaziergange, entdeckten wir auf einem freien Platze unter einigen großen Tannen wiederum Ameisen derselben Sorte, suchten und fanden nun auch an einer Hecke eine ziemlich bedeutende Colonie. Da jener Ort nicht sehr weit von dem Garten war, so schien uns die Anwesenheit der Thiere in letzterem erklärt, weil die Ameisen bekanntlich sehr weite Streifzüge unternehmen. Allein einige Tage hernach entdeckte ich an einem Rasenabhange des Gartens doch eine Colonie und zwar eine ganz winzige, eben im Entstehen begriffene. Die Stelle lag recht an der Sonnenseite, aber halb unter einem kleinen Busche. Und als ich nun die Wege der Ameisen verfolgte, gelangte ich bis zu der den Garten umzäunenden Planke, unter welcher durch der Strom sich bewegte. Ich kennzeichnete mir die Stelle, verließ den Garten und fand jenseits der Planke bald genug die Heerstraße wieder, auf der die beladenen Thierchen zu Tausenden krabbelten. Und diese Heerstraße führte zu jener großen Colonie oder vielmehr von derselben her; und so eifrig schleppten die Arbeiter Nadeln und allerlei Spiere herbei, daß man das Wachsen der Tochterstadt von Tag zu Tag, ja fast stündlich wahrnehmen konnte.

In Folge einiger Experimente, von denen ich später berichten werde, hatten wir den jungen Staat mehrfach gestört und bemerkten noch gegen Abend eine auffallende Unruhe in demselben. Andern Morgens war das ganze Gemeinwesen – verschwunden! Da indessen noch Ameisen genug umherliefen, so folgten wir diesen und entdeckten nun an demselben Hange und abermals unter einem Strauche, aber etwa zehn Schritte entfernt, dieselbe junge Colonie, die also während der Nacht mit Sack und Pack umgesiedelt war und den ganzen kleinen Nadelhaufen geradezu versetzt hatte. Wir störten sie nun nicht weiter, beobachteten sie aber Nachts bei Laternenschein und fanden das Gewimmel der Arbeit fast noch regsamer, als bei Tage. In der tiefen Stille knisterte und kraspelte das im Grase und drängte, schob, schleppte, baute, daß es eine wahre Lust anzusehen war – eine Lust, die selbst einen Herrscher wie Salomo wohl zu den mannigfachen Worten zum Preise des Ameisenvolks anregen konnte. –

Hier also war die Colonie als eine direct durch Wanderung entstandene constatirt. Und solche habe ich unzählige andere, namentlich in den großen Forsten der Göhrde gefunden. Denn da lagen hohe Ameisenburgen so nahe bei einander, daß die verschiedenen Karawanenstraßen sich hin und her kreuzten und directe Verbindungen zwischen den einzelnen Gemeinden bestanden. – Sollten also je, wie Taschenberg behauptet, an von einer Ameisenburg entfernten Stellen niedergefallene Weibchen Anlaß zu neuen Colonie-Gründungen werden, so kann ich mir das nur so denken: daß dieselben in so geringer Entfernung von ihrem Neste oder auch dessen Nestcolonieen niederfallen, daß sie von Arbeitern ihres Geschlechts gefunden und erfaßt werden können; daß aber andererseits die Entfernung doch wieder derartig sein muß, daß die Arbeiter lieber an Ort und Stelle einen Neubau beginnen, als sich die Mühe des Transports zu der Mutterstadt machen. Ohne Arbeiter aber, blos durch Weibchen die Gründung einer Ameisencolonie anzunehmen, dazu wird mich erst der genaue Bericht eines Sachkundigen bringen, der den Fall wirklich mit angesehen hat. Daß von den Myriaden der Ameisenschwärme, die ja oft wolkenartig und stundenweit vom Winde fortgeführt werden, der allergrößte Theil umkommt, ist bekannt. Die Natur, die vor allem den Grundsatz befolgt: „Allzu viel ist ungesund!“ hat auch hier der ungeheuren Production den nöthigen Damm entgegengesetzt.

Wirft man mir endlich ein, wie es komme, daß Ameisenhaufen ganz vereinsamt und einzeln angetroffen werden, so werde ich erst die Gegenfrage thun: Ob sich Jemand, der eine solche Colonie fand, wirklich auch überzeugt hat, daß sonst keine Bauten dieser Art in der betreffenden Gegend vorkommen? – Und sodann werde ich sagen, daß ich allerdings gerade diesen letzten Fall glaube verbürgen zu können. Denn auf den Göhrdener Bergen bei Hannover, einer Hügelkette, die sich etwa ein Stündchen lang hinzieht und die ich Jahre lang durchstreift habe, fand ich nur zwei Colonien und in einer solchen Entfernung von einander, daß eine Verbindung nicht mehr ersichtlich war. Aber wer sagt, daß diese Entfernung immer bestanden hatte? Können Ameisen in einer Nacht zehn Schritt weit umsiedeln, welchen Weg können dann in vielen Jahren ihre Ansiedlungen zurücklegen! Und wie viel Mittelglieder mögen bestanden haben, die aus irgend welchen Gründen verschwunden sind! Denn – ich füge dies nachträglich hinzu – auch jener große Haufen, dem ich damals so erfolglos seine Bürger raubte, war nach zwei Jahren spurlos verschwunden, also entweder ausgestorben oder umgesiedelt. – Sehr wirkt auch die Abholzung und Neubepflanzung der Forsten auf die Verbreitung der Ameisen ein; ich bin überzeugt, rückte man ein Tannengehölz im Laufe der Jahrhunderte meilenweit von seiner ersten Stelle hinweg, sämmtliche darin befindliche Ameisencolonien würden mit fortrücken. Und endlich kann ich constatiren, daß seit etwa zwei Jahren auf den eben genannten Bergen sich mehrere neue Colonien gebildet haben, und zwar – da sie mit einander in Verbindung stehen – durch Wanderung, ohne daß ich noch hätte unterscheiden können, welches der Mutterstaat und welches die Tochterreiche sind. –

Sollten meine Ansichten nun der Berichtigung bedürfen, so sind mir solche sehr erwünscht. Die Ameisenfrage ist nicht blos eine wissenschaftlich höchst interessante, sondern für das Forstwesen zugleich von hervorragend praktischer Bedeutung. Möge man mir deshalb diese vielleicht etwas umständliche Behandlung zu Gute halten. –

Um noch kurz von den oben erwähnten Experimenten zu berichten, so bezogen dieselben sich auf die Wirkungen des Ameisenbisses und der demselben eingeflößten Säure. Uns Menschen verursacht dieselbe nur einen kurzen Schmerz, obgleich die nöthige Anzahl auch hier höchst fatal, ja gefährlich werden kann. Kommen doch unter den Gräueln des dreißigjährigen Kriegs und der spanischen Kriege auch die entsetzlichen Fälle vor, daß Säuglinge in Ameisennester geworfen und so zu Tode gebissen wurden. – Auf die Thiere wirkt die Ameisensäure nun ganz besonders, aber auf keines mehr, als aus den Frosch. Während Insecten, Würmer und andere viel kleinere Wesen unter vielen Ameisenbissen noch lange Qualen zu erleiden haben und von wenigen kaum angefochten zu werden scheinen, da sie im Fall der Rettung oft munter davoneilen: so ist der Frosch fast immer ein Kind des Todes, ein mittelgroßer Thaufrosch sogar in Folge eines einzigen Bisses. Es handelt sich nur um die Dauer, bis wann das Gift den Tod herbeiführt. Drei Ameisenbisse brachten einen kleinen Frosch fast im Nu in das Reich der Schatten, während ein großer nach demselben Quantum noch etwa eine Minute lebte. Leider sind die Notizen hierüber verloren gegangen, und so will ich diese Zeitmaße nicht als genau verbürgen. –

Auf der bedeutenden Hitze, um zum Schlusse auch dies noch zu erwähnen, welche, wie ich oben anführte, in den Hügeln der rothen Waldameise herrscht, fußt auch das Verfahren, durch welches die Apotheker die nöthigen Thiere zur Gewinnung des Ameisenspiritus erlangen und welches ich ebenfalls in der Lüneburger Haide kennen lernte. Große Glasflaschen werden bis an den Rand der Oeffnung in die Haufen vergraben und dann einige Tropfen Spiritus hineingegossen. Durch die Bruthitze wird der letztere zu besonders starkem Ausdünsten getrieben, und sowie nun eine Ameise dem verderblichen Krater nahe kommt und neugierig in den schwarzen Schlund hinabschaut, wird sie im Umsehen benebelt und stürzt hinab. Man sucht hierbei möglichst die Nester und Eier der nützlichen Thiere zu schonen und versenkt die Flaschen seitwärts am Abhange. Aber so ungeheuer ist die Menge der Thiere, daß oft in wenigen Stunden eine solche große grüne Glasflasche gefüllt ist.

Freilich noch mehr als hierdurch bekommt man einen Begriff von der unausdenkbaren, nach Milliarden kaum mehr zu messenden Anzahl dieser „Ameisenwirthschafts“-Glieder, wenn man den Verbrauch der Puppen sieht, die centnerweis in den Handel kommen. Wie verschwindend sind doch auch hier unsere Zahlen gegen die der allgewaltig schaffenden Natur! –

M. Evers.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 413. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_413.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)