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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Sprüngen jagte der schäumende Ticino an uns vorüber, als könnte er nicht schnell genug aus dem rauhen Norden nach dem milden Süden fliehn.

Bald erreichten wir eines jener Zufluchtshäuser, cantonniere, die dem Reisenden bei schlechter Witterung ein Asyl bieten und den Straßenarbeitern zum Aufenthalte dienen. Diese sogenannten Rutner (rottoni, cantonniers) führen besonders im Winter ein mühevolles Leben, mit dem sich die Beschwerden und Entbehrungen unserer Eisenbahnschaffner auch nicht entfernt vergleichen lassen. Jahr aus Jahr ein verweilen diese Leute in der schauerlichen Wüste des Hochgebirges, verbannt und abgeschnitten von der übrigen Welt, ohne jede Bequemlichkeit; ihre Wohnung, ein kaltes, unwirthliches Steinhaus, durch dessen enge Fenster kaum ein Sonnenstrahl dringt, rings umher kein Baum, kein Strauch, nur graue Granittrümmer; ihre Nahrung schwarzes Brod und zähe Polenta mit etwas Käse, ihr Getränk das aus den Gletschern abfließende Eiswasser. Bei einer Kälte von zwanzig bis dreißig Graden müssen sie die Straße in Stand halten, den fußhohen Schnee fortschaufeln und oft mit Lebensgefahr für die Weiterbeförderung der Post Sorge tragen. Ein Fehltritt, ein jäher Windstoß kann sie in den Abgrund schleudern, eine Lawine sie verschütten, gewiß kein beneidenswerthes Loos, und doch schienen uns die Leute zufrieden und heiter, als wir mit ihnen sprachen und unsere Cigarren mit ihnen theilten. Wie sie uns erzählten, dauert es oft mehrere Tage, bevor sie trotz aller Anstrengung den Weg für die italienische Post frei machen können, wenn das Val Tremolo bei starkem Schneefall unzugänglich wird. Dann müssen die Passagiere so lange auf dem St. Gotthards-Hospiz verweilen, während sie selbst die Briefe und Frachtstücke weiter befördern, wobei nicht selten der Eine oder der Andere der übermenschlichen Mühe erliegt und auf dem Wege erfriert.

Noch gefährlicher sind die im Frühjahre fallenden Lawinen, deren es mehrere Arten giebt. Am gefährlichsten erscheinen die sogenannten „Wind- oder Staublawinen“ wegen des von ihnen erzeugten und sie begleitenden Orcans, der Alles, was sich ihm in den Weg stellt, Häuser und Bäume, Menschen und Vieh, mit sich fortreißt und in die Tiefe schleudert. Ihnen zunächst kommt die „Grundlawine“, welche sich bei eintretendem Thauwetter aus einem kleinen sich loslösenden Schneeballe bildet, der im Rollen immer größer wird, bis er zu einer gewaltigen, zermalmenden Größe anwächst. Weniger zerstörend wirkt die „Schlupflawine“, die durch das Herabrutschen des Schnees an den schiefen Abhängen der Berge entsteht, und das ihr verwandte „Föhnschild“, eine den Felsenrand überragende Schneemasse, die durch ihre eigene Schwere oder einen leichten Windstoß, oft durch den bloßen Schall der menschlichen Stimme oder den Klang einer Glocke in Bewegung geräth.

Da wir im Hochsommer reisten, so blieben wir von all’ diesen furchtbaren Naturereignissen verschont. Ohne weitere Abenteuer erreichten wir nach mehrstündigem, beschwerlichem Steigen die dunkle Schlucht, durch welche Suwarow, der russische Hannibal, die von ihm geschlagenen Franzosen verfolgte. Dicht am Austritt aus dem „Val Tremolo“ erinnert an seine Heldenthat eine in den Felsen gehauene Inschrift: „Suwarow Victor!“ – In kurzer Zeit begrüßten wir das St. Gotthards-Hospiz, wo wir in dem Hôtel „Prosa“, das jedoch keineswegs diesen unpoetischen Namen verdient, ein freundliches Unterkommen fanden. Hier, in einer Höhe von sechstausendfünfhundert Fuß, hat menschliches Mitleid und christliche Frömmigkeit bereits im vierzehnten Jahrhundert eine Herberge gegründet, die, 1775 von einer Lawine zerstört und später von den Franzosen niedergebrannt, gegenwärtig, neu errichtet, durch wohlthätige Sammlungen und einen namhaften Beitrag der tessiner Regierung zum Besten der Reisenden unterhalten wird. Ungefähr elf- bis zwölftausend arme Reisende aller Nationen erhalten im Laufe eines Jahres fünfundzwanzigtausend Rationen, Brod, Suppe und Kaffee, und warme Kleidungsstücke unentgeltlich geliefert. Die Kosten dafür betragen gegen zehntausend Franken, und gewiß verdient keine zweite derartige Stiftung in höherem Maße die Theilnahme und Unterstützung aller Menschenfreunde. Oft verweilen bei anhaltendem Schneefall hundert Personen mehrere Tage in diesem Asyle, wo sie eine Zuflucht und Verpflegung finden. Statt der früheren Mönche hat die Regierung des Cantons jetzt Herrn Lombardi als Verwalter angestellt, während den Gottesdienst ein besonderer Caplan versieht, der zugleich die nöthigen meteorologischen Beobachtungen macht.

Wenn jene furchtbaren Schneestürme, welche in der Volkssprache „Guxeten“ genannt werden, um die Gipfel des St. Gotthard toben, die Luft, in Millionen schneidender Eiskrystalle verwandelt, sich wie eine Binde um die geblendeten Augen legt, die erstarrende Kälte den Athem erschwert, die Glieder lähmt und der Tod in seiner schrecklichsten Gestalt den hülflosen Wanderer überfällt – dann ertönt tröstend und warnend das schrille Glöcklein der Capelle auf dem Hospize und die rüstigen Knechte wandern in Begleitung der weltberühmten Hunde, mit Wein, Lebensmitteln und warmen Decken versehen, hinaus in Sturm und Wetter, um den Verirrten beizustehen, um die Verschmachtenden zu laben. Herr Lombardi, unser Wirth, erzählte uns aus seinen reichen Erlebnissen eine Reihe der erschütterndsten Tragödien und der wunderbarsten Rettungen, wobei wir nicht genug den Muth und die Aufopferung der Hospizbewohner bewundern konnten. Man denke sich, welche Selbstverleugnung dazu gehört, neun Monate des Jahres in dieser Schneewüste zu verweilen, stets bereit, das eigene Leben für die Erhaltung seiner Nebenmenschen zu wagen! Auch mit den klugen, höchst intelligenten Hunden, von denen jeder Einzelne die Rettungsmedaille verdient, wurden wir näher bekannt. Die Thiere besitzen einen wunderbaren Instinct und finden ihren Weg in finsterer Nacht durch Schnee und Eis, wo sie die Verschütteten wittern und aus ihrem Grabe herausscharren. Zwar ist die echte Bernhardinerrace auf dem St. Gotthard erloschen, aber ihre Nachfolger, eine Mischung von Kamtschatka- und Leonbergerhunden, sollen den Vorgängern in keiner Weise nachstehen.

Im Hochsommer gewährt dagegen das Hospiz ein ebenso interessantes als belebtes Schauspiel, wenn von beiden Seiten die Posten und Passagiere sich kreuzen und hier ein wahrer internationaler Völkercongreß zusammentritt, woran Deutsche, Italiener und Franzosen, vorzugsweise aber die unvermeidlichen Engländer und Amerikaner, sich betheiligen. Auch die Umgegend, so wüst sie auch erscheint, bietet manche lohnende Partie, wie die Ersteigung des nahen „Tritthorns“ und der „Fibia“, von denen man eine überraschend schöne Aussicht auf die Kette der Central-Alpen genießt. Ebenso wird der nur eine halbe Stunde entfernte, in romantischer Umgebung und auf einer Höhe von sechstausend Fuß gelegene „Lucendro-See“ öfters von Touristen besucht.

Bei der großen Wichtigkeit der St. Gotthardsstraße für Handel und Verkehr zwischen Deutschland und Italien lag der Gedanke wohl nahe, durch eine Eisenbahn beide Länder auch von dieser Seite zu verbinden. Ein directer Schienenweg über das Joch des Hochgebirges mußte jedoch wegen der Schneestürme im Winter, welche einen ganzen Eisenbahnzug in den Abgrund stürzen können, wegen der Lawinen im Frühjahre und wegen der ganzen Lage auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen. Man faßte daher den der modernen Titanen würdigen Entschluß,[WS 1] den Granitleib des St. Gotthard zu durchbohren und einen zwei Meilen langen Tunnel von einem der gefährlichsten Punkte zu dem andern hindurchzuführen. Um die für den unterirdischen Bau nöthige Luft herbeizuschaffen, sollen mehrere gegen tausend Fuß tiefe Schachte durch den harten Stein gebrochen werden. Schon in einigen Jahren hofft man das Riesenwerk zu beenden und dann zu jeder Zeit des Jahres in wenigen Minuten die Strecke zu durcheilen, zu der wir jetzt noch mehrere Stunden brauchten, obgleich wir tapfer zuschritten, nachdem wir uns hinlänglich ausgeruht und ein Glas feurigen Veltliner auf das Gelingen des kühnen Unternehmens mit unserem Wirthe getrunken hatten.

Nicht weit von dem Hospiz entfernt liegt das berüchtigte „Feld“. Kein Feld des Segens, sondern eher ein Schlachtfeld höllischer Geister und tückischer Dämonen, die im Frühjahre mit donnernden Lawinen, im Winter mit gräßlichen Schneestürmen gegeneinander kämpfen. Noch immer zeigte uns die Natur ihr ernstes Todtengesicht, bis nach und nach das versteinernde Medusenantlitz milder wurde und die starren Züge sich wieder zu beleben anfingen.

Noch scheint das organische Leben erstorben, noch sieht man keinen Baum, keinen Strauch, aber plötzlich bei einer Biegung des Weges ruht das Auge mit doppelter Wonne auf dem grünen, einer riesigen Matte ähnlichen Thal, aus dem die alten dunkeln

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Enschluß
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 557. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_557.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)